Revolution und Alltag
Die Dauerausstellung “Eisenbahn: Revolution und Alltag” wurde in den historischen Lokschuppen am 20. März neu eröffnet. Die Ausstellung zeigt auf 1.700 Quadratmetern die Wirkung der Eisenbahn auf Gesellschaft, Wirtschaft und Alltag von den Anfängen bis 1914.

40 Jahre: Diesen runden Geburtstag feierte das Deutsche Technikmuseum 2023. 1983 war es als Museum für Verkehr und Technik eröffnet worden. Zu den ersten Objekten gehörten Fahrzeuge, die bereits in den 1960er und 70er Jahren für die damals noch zu schaffende Institution zurückgestellt wurden. Bereits ab 1984 erfolgte der Wiederaufbau der historischen Lokschuppen, die hundert Jahre zuvor als Teil des Anhalter Bahnhofs errichtet worden waren. Dabei erwies es sich als optimal, dass ebenfalls 1984 das einstige Verkehrs- und Baummuseum von der DDR an den Senat von West-Berlin übergeben wurde. Nun verfügte das neue Museum für Verkehr und Technik plötzlich über eine Fülle faszinierender Exponate: historische Lokomotiven, oft letzte ihrer Art, Objekte zur Zugsicherungs-, Gleisbau- und Fahrzeugtechnik – und Dutzende historische Modelle von Personen- und Güterwagen Im Maßstab 1:5. Sie sind bis zu vier Meter lang und weisen eine unglaubliche Fülle an Details auf, dii sogar Miniatur-Klopapierrollen in den WCs umfassen. Was lag näher, als diesen Schatz in das neu gegründete Haus in Kreuzberg zu überführen? So wurde es bis 1987 umgesetzt und seitdem prägten die einmaligen Objekte den chronologischen Rundgang durch die Lokschuppen. Erstmals in einem Technikmuseum wurde eine kulturgeschichtliche Darstellung von Eisenbahngeschichte präsentiert, ein wegweisender Ansatz des ersten Kurators Dr. Alfred Gottwaldt. Zu dessen Verdiensten gehörte auch, die entscheidende Rolle der Eisenbahn in der Logistik des Holocaust zu thematisieren.
Die von Gottwaldt geschaffene Ausstellung blieb bis Anfang dieses Jahrzehnts nahezu unverändert. Die Objektfülle erschien inzwischen als ein Anachronismus; in der Freude über die wiedergewonnenen Exponate war in den 1980er Jahren eine Art Wunderkammer entstanden, in der sich zum Beispiel die eindrucksvollen Modelle gegenseitig im Weg standen. Die inhaltliche Vermittlung über winzige Wandtexte wirkte nun zu fachbezogen für ein breites Publikum. Sehgewohnheiten und Ansprüche an museale Vermittlung hatten sich grundlegend verändert, eine Neugestaltung war überfällig.
Thematische Auswahl statt überwältigender Fülle
Angesichts der Größe der Ausstellung von rund 6500 Quadratmetern wird ihre Erneuerung in Etappen umgesetzt. Der mit finanzieller Hilfe der Lotto-Stiftung Berlin umgestaltete erste Abschnitt wurde am 20. März feierlich eröffnet. Er umfasst die Zeit von den Anfängen der Eisenbahn vor über 200 Jahren bis zum Ersten Weltkrieg. Bei der Neukonzeption wurde der kulturgeschichtliche Blickwinkel deutlich geschärft: Wie grundlegend wirkt die Eisenbahn seit ihren Anfängen auf Gesellschaft, Wirtschaft und Alltag ein? Das spiegelt der neue Titel „Revolution und Alltag“ wider.
Für jedes Unterthema wurden Schlüsselobjekte definiert. Trotz der Fülle an Exponaten in der früheren Ausstellung wurden hierzu auch die Depotbestände gesichtet; vieles fand von dort den Weg in den ersten Lokschuppen, gerade aus der Frühzeit der Eisenbahn. Für diese Umbruchszeit war es vor allem wichtig zu zeigen, wie rasch sich das neue Verkehrsmittel weltweit verbreitete und das Leben aller Menschen radikal veränderte: Die Eisenbahn ließ das Wachstum der Städte geradezu explodieren, war Motor der Industrialisierung, löste große Migrationsbewegungen aus und machte diese überhaupt erst möglich. Sie beschleunigte und veränderte den Alltag so grundlegend wie seitdem nur das Internet.

Jeder Aspekt sollte mit möglichst nur einem Objekt belegt werden, dafür aber optimal inszeniert und interpretiert. Gerade für die Frühzeit finden sich in den Beständen aus dem ehemaligen Verkehrs- und Baumuseum Objekte von internationalem Rang. In der alten Ausstellung optisch untergehend, gehört dazu der „offene Personenwagen“ 3. Klasse von 1843, eines von nur zwei weltweit erhaltenen Fahrzeugen dieses frühen Bautyps, bei dem die Fahrgäste noch ohne Dach im Freien saßen. Bei der Recherche stellte sich heraus: Anders als in England bedeutete die Fahrt in diesem dachlosen Wagen jedoch keine soziale Herabstufung, denn zum gleichen Preis konnte man auch geschlossen reisen. Vielmehr galt die offene Fahrt vom heutigen Wroclaw in das 80 Kilometer entfernte Eulengebirge bereits zu dieser frühen Zeit als eine touristische Attraktion.
Selbst aus kurios anmutenden Spezialsammlungen ließen sich wichtige Themen ableiten. Die „Haarmannsche Gleissammlung“ illustriert die technische Entwicklung des Systems Gleis/Schiene im 19. Jahrhundert. Zu den neu gezeigten Objekten zählt ein Stück Originalgleis der weltweit ersten öffentlichen Eisenbahn, die 1825 im Nordwesten Englands fuhr: die Geburtsstunde der Eisenbahn. In Großbritannien wird das Jubiläum 2025 in vielen Ausstellungen und Events gewürdigt werden. Im Deutschen Technikmuseum zeigt das Originalstück schon jetzt, wie langlebig technische Standards sind: Als Spurweite, der Abstand beider Schienen zueinander, wurde auf der bahnbrechenden englischen Strecke das krumme Maß von 1.435 Millimetern gewählt. Über den damaligen britischen Lok-Export verbreitet, ist es die Spurweite, auf der heute noch die Züge der Deutschen Bahn fahren und weltweit der meiste Schienenverkehr stattfindet.
Auch bei den Fahrzeugen gibt es ein neues Highlight aus den Tiefen des Depots: den ersten Wagen der Berliner Pferdeeisenbahn von 1865. Bis 1900 bestand in Berlin ein über hundert Kilometer langes Pferdebahn-Netz, das den geringen Rollwiderstand der damals noch neuen Schienenwege mit der seit Jahrtausenden genutzten tierischen Antriebsquelle verband. Zwei vor dem doppelstöckigen Wagen angespannte Pferdeattrappen lassen die vergessene Form des ÖPNV in der Ausstellung lebendig werden. Die Inszenierung soll ein breiteres Publikum ansprechen als die zuvor hier stehenden Dampfloks und bietet sich als Fotomotiv an.

Neue Vermittlungsformen
Ergänzt wird der Pferdebahn-Wagen um Hörstationen mit zeitgenössischen Berichten über das Verkehrsmittel oder Verordnungen mit heute unverständlichen Bestimmungen, wie jener, dass Frauen nicht auf dem Oberdeck zugelassen waren. Sogar ein Pferdebahn-Spottlied wurde von einem Chor neu eingesungen. Diese Angebote machen den Ausstellungsbesuch niedrigschwelliger und besonderes für familiäre Kleingruppen attraktiv. Dazu gehört auch, dass die Geschichte herausragender Fahrzeuge in kurzen Zeichentrickfilmen vorgestellt wird. Gezeichnet von der Berliner Illustratorin Anna Niedringhaus, sind die Filme für jedes Alter unterhaltsam und dennoch in allen Details historisch korrekt.
Mitmach-Stationen verdeutlichen technische Grundprinzipien der Eisenbahn, wie den geringen Rollwiderstand, und ergänzen den kulturgeschichtlichen Parcours. Viele Hands-on-Objekte erweitern das Ausstellungserlebnis um eigenes Ausprobieren. An einer Station etwa lässt sich zu zweit ein kurzes Stück Schiene mit einer Original-Schienenzange hochheben und nachempfinden, welche physische Anstrengungen der Bahnbau von Hand im 19. Jahrhundert erforderte.
Inseln schaffen Orientierung im Lokschuppen
Die Lokschuppen als authentische, historische Bahninfrastruktur sind das größte Exponat der Ausstellung. Durch ihren Kreissegment-Grundriss und die visuelle Kleinteiligkeit sind sie als Ausstellungsgebäude aber nur bedingt geeignet. Das Berliner Architekturbüro Duncan McCauley hat hierfür als Lösung farbige Einbauten geschaffen: bis zu elf Meter lange und drei Meter hohe Wände mit gerasterten Großfotos sowie davorliegende, eingeebnete Bodenflächen in zur Wand passender Farbe. Wände und Böden bilden zusammen Ausstellungsinseln, Orte, an denen die Inhalte vermittelt und kleinere Objekte in Szene gesetzt werden. Es gibt keine vorgegebene Reihenfolge zum Anschauen der Inseln, doch von der Decke hängende Jahreszahlen vermitteln die chronologische Organisation der Ausstellung.

Die Ausstellungswände wurden 850 Kilometer östlich von Berlin gefertigt, nämlich in Lettland durch die Ausstellungsbaufirma „Yes we can“, nach Vorgabe der estländischen Firma Motor OÜ. Um die teils sehr schweren Objekte wie die Skulpturen „Tag“ und „Nacht“ vom Anhalter Bahnhof an den Wandeinbauten montieren zu können, erhielten diese in ihrem Inneren aufwendige Stahlkonstruktionen. Diese wurden in unserer Restaurierungswerkstatt entwickelt und gebaut. So konnten in Zusammenarbeit mit der Transportabteilung auch drei originale Hartung´sche Säulen im Lokschuppen aufgestellt werden.
Die Inseln verbessern zugleich deutlich die Barrierefreiheit der Ausstellungsfläche. Hier wurde der heterogene Lokschuppen-Bodenbelag aus Klinkern, Holzbohlen, Gittern und Schienen durch eine Ebene aus Gussasphalt nivelliert, auf der sich die Sichtoberfläche aus durchgefärbtem Kautschukboden befindet. Was einfach klingt, erforderte in der Praxis langwierige Planungen und Testflächen.
Mit den jetzt gefundenen gestalterischen und technischen Lösungen soll nun bald der Umbau der Dauerausstellung Schienenverkehr im Deutschen Technikmuseum fortgesetzt und zeitlich bis in die Gegenwart und Zukunft geführt werden.