Jim Avignon
Vor einem Jahr etwa flatterte mir eine Anfrage ins Haus, ob ich Lust hätte, bei der nächsten großen Sonderausstellung des Deutschen Technikmuseums als Künstler mit dabei zu sein: Die Ausstellung sollte sich ums Fahrradfahren in der Großstadt drehen. In meiner Fantasie sah ich mich bereits durch die Räume des Technikmuseums spazieren und an allen möglichen Stellen Characters auf Rädern an die Wand malen.

Die Einladung kam mir wie gerufen! Ich hatte gerade ein etwas anstrengendes Jahr hinter mir und den großen Wunsch, mich in 2024 nur auf schöne Projekte zu konzentrieren. Im Deutschen Technikmuseum eine Ausstellung als Künstler zu begleiten – das war genau nach meinem Geschmack.
Ich habe mich schon 1996 vom Auto verabschiedet und bin seitdem vor allem Fahrradfahrer. Natürlich wollte ich als Landkind auch mit 18 ein Auto. Aber ich merkte schnell: Ich bin kein besonders guter Autofahrer. Zu schnell abgelenkt, immer in Gefahr, am Steuer einzunicken, und da war auch noch die Sache mit dem Alkohol am Steuer – ich war mir nicht so sicher, wie genau ich es da im Ernstfall nehmen würde … Als mir 1996 eine die Straße überquerende Frau beinahe ins Auto gerannt wäre, nahm ich das als Wink des Schicksals, die Autofahrerei für immer an den Nagel zu hängen.
BEIM RADELN BEOBACHTE ICH GERNE MEINE MITRADLER UND ORDNE SIE GEDANKLICH IN EINE GROSSE SAMMLUNG DER CHARAKTERSTUDIEN EIN.
Schon als Kind bin ich gerne über die Dörfer geradelt. Ich finde, beim Radfahren kann man besonders gut nachdenken oder laut vor sich her singen. Ich mache das heute noch und immer wieder mal muss ich anhalten, um mir was aufzuschreiben. Als Erwachsener bin ich eher ein Kurzstreckenradler. Der Kiez ist meine Grenze, geht es weiter weg, steige ich meistens auf die Öffentlichen um.
Mein Fahrrad sieht aus wie eine Promenadenmischung und ist auf sympathische Weise heruntergerockt, so, als sei es kurz davor auseinanderzufallen. Das gefällt mir, ich identifiziere mich damit – es sieht so aus, wie ich mich nach einer Partynacht fühle, leicht ramponiert, aber trotzdem guter Dinge. Nebenbei hat das den sehr großen Vorteil, dass mir noch nie ein Rad geklaut wurde.

Beim Radeln beobachte ich gerne meine Mitradler und ordne sie gedanklich in eine große Sammlung der Charakterstudien ein. Da gibt es den aggressiven Drängler, den Schlangenlinien fahrenden Romantiker, die Mutter mit zwei Kindern im Kastenwagen und den Einkäufen auf dem Rücken oder den Businesstyp mit Klapprad. Ich habe das Gefühl, jeder Mensch hat seine eigene Art und Weise zu radeln. Der Fahrstil und auch das Fahrrad verraten eine Menge. Wenn man so will, lässt sich die ganze Bandbreite menschlicher Marotten auch beim Fahrradfahren wiederfinden: die Fahrradwelt als Spiegel der Gesellschaft.
Natürlich ist das Fahrrad auch schon lange als gelegentlich wiederkehrendes Motiv in meiner Bildwelt zu finden. Da gibt‘s die multitaskende Frau, die sich gut gelaunt auf dem Fahrrad die Lippen nachzieht, das Tandem, bei dem nur einer radelt, bis hin zum einsamen Radler, der auf einer ewigen „tour du monde“ einen Gesichtsplaneten umrundet …
Bald geht‘s los – ich freu mich sehr auf „Rückenwind“ – die gemeinsame Ausstellung mit dem Deutschen Technikmuseum!