Mehr Stadt fürs Rad!
Der Wiederaufstieg des Fahrrads zum beliebten Verkehrsmittel für alle ist das Thema der Sonderausstellung „Rückenwind. Mehr Stadt fürs Rad!“ Mit Blick auf die öffentlichen und politischen Diskussionen um Radwegebau und das oft konfliktreiche Miteinander von Autos, Fahrrädern und Fußgängern widmet sich das Deutsche Technikmuseum erneut einer aktuellen, gesellschaftlich relevanten Entwicklung.

Menschen, die Rad fahren, haben ein Recht darauf, sicher und schnell ans Ziel zu kommen. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit. Und auch die Lösung erscheint einfach: ein flächendeckendes Radwegenetz, das neben dem Fußwege- und Straßennetz besteht. International gibt es dafür erfolgreiche Beispiele, vor allem die Niederlande. Im Ergebnis zeigt sich: Gute Radinfrastruktur führt zu mehr Verkehrssicherheit und steigert zudem den Verkehrsfluss, erfordert aber die Neuplanung und den Umbau an den unterschiedlichsten Stellen: Hauptstraßen, Nebenstraßen, Kreuzungen und Parkmöglichkeiten, um nur einige zu nennen.
Die Niederlande förderten schon seit den 1970er Jahren den Aufbau der heutigen Infrastruktur für den Radverkehr. Die wichtigsten Faktoren dafür waren bereits damals vorhanden: das gesellschaftliche Engagement und der politische Wille. In Deutschland hingegen ist der Ausbau der Radinfrastruktur nicht unumstritten und der politische Wille dazu nicht Konsens.
Das Fahrrad wird in Teilen von Gesellschaft und Politik immer noch nicht als gleichwertiges Verkehrsmittel angesehen. Mitunter wird es gar als Symbol einer neuen Umwelt- und Stadtplanungspolitik herangezogen, die zu begrüßen oder entschieden abzulehnen sei. Das berechtigte Anliegen der Radfahrenden, sich sicher und zügig fortbewegen zu können, gerät dabei schnell aus den Augen.


Geschichte und Gegenwart des Radverkehrs interaktiv erleben
Die Sonderausstellung stellt den Radverkehr ins Zentrum, ohne ihn mit anderen Themen überladen. Sie konzentriert sich weitgehend auf Deutschland und den Lebensraum Stadt, lässt die Entwicklung in anderen Ländern aber nicht außen vor.
Zunächst wird der Wiederaufstieg des Radfahrens anhand von Objekten der jüngeren Fahrradgeschichte beleuchtet, vom schicken Rennrad aus den 1970er Jahren bis zum modernen Lastenrad mit Elektroantrieb. Ein großer Teil von „Rückenwind“ betrachtet anschließend die Konflikte im Verkehr sowie die Perspektiven von Autofahrenden, zu Fuß gehenden und Radfahrenden. Nicht zuletzt geht es auch um die möglichen und erforderlichen Maßnahmen zum Ausbau der Radinfrastruktur.
Die Besucherinnen und Besucher können diese Themen an Medienstationen und Hands-On-Angeboten auch interaktiv erfahren. Die VR-Anwendung „Berlin 2037“ macht besonders eindrücklich erlebbar, was der Umbau von Straßen für Radfahrende bewirkt.
Drei besondere Highlights, machen den Besuch der Ausstellung zu einem visuell attraktiven und interaktiven Erlebnis für die ganze Familie: Der Berliner Pop- Art-Künstler Jim Avignon fertigte für die Ausstellung eindrucksvolle und pointierte Illustrationen. Das Team des Science Center Spectrum konzipierte und baute für „Rückenwind“ mehrere Experimentierstationen. Die Abteilung Bildung und Vermittlung bietet ein spannendes und kostenfreies Bildungsprogramm an.
Experimentierstationen des Science Center Spectrum
Eine der neun Themeninseln der Ausstellung befasst sich mit „Innovationen beim Radverkehr“. Um vier mit modernster Technik ausgestattete Fahrrad-Leitobjekte sind dort interaktive Experimentierstationen im optischen Design des Science Center Spectrum gruppiert. Diese Hands-On-Stationen machen Phänomene und Funktionsprinzipien der Leitobjekte erlebbar. Zum Beispiel lässt sich herausfinden, warum man beim Fahrradfahren nicht umfällt oder wie eine Nabenschaltung im Detail funktioniert.
Zum Teil ergeben sich aus der selbstständigen Erforschung der Funktionsprinzipien und Phänomene noch weiter reichende Überlegungen. Ein Beispiel ist das Experiment zum Anhalteweg: Bei zunehmender Geschwindigkeit wächst der Bremsweg überproportional an. Hier wird klar, warum eine Höchstgeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern möglicherweise ein guter Kompromiss für das Fortkommen und die Sicherheit verschiedener Verkehrsteilnehmender in der Stadt wäre.

Die Stationen bieten somit Anknüpfungspunkte, Wissenschaft, Technik und ihre Bezüge zur Welt zu hinterfragen oder relevante Kontexte zum täglichen Leben herzustellen. Die Farbgebung der Stationen, die je nach Experiment variiert, macht den inhaltlichen Bezug zu einem in der gleichen Farbe gehaltenen Themenbereich im Science Center Spectrum deutlich. Dies erleichtert es den Besuchenden, bei Interesse weitere ergänzende Informationen im Spectrum zu finden.
Des Weiteren stellen verschiedene Begleitangebote für Schulklassen und familiäre Kleingruppen ausgewählte Aspekte der Fahrrad-(Elektro-) Mobilität in den Mittelpunkt. Als Ort dafür dient der „Erlebnisraum Lastenrad“ – mit dem ONO-Cargobike als attraktiv bemaltem Objekt im Zentrum. Er ist, anders als die übrigen Experimentierstationen des Spectrum, keiner einzelnen, festen Thematik zugeordnet. Stattdessen lässt er sich bedarfsorientiert anpassen, ist inhaltlich und örtlich flexibel und kann somit als entsprechend ausgestatteter Erlebnis- und Lernort sogar selbst zu den Menschen kommen.
Wie das Fahrrad in Vergessenheit geriet
Die Ausstellung startet mit einem Blick in die Vergangenheit. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das Fahrrad ein beliebtes Verkehrsmittel, das für Wohlstand und Freiheit stand. 1938 gab es in Deutschland rund 20 Millionen Fahrräder und nur 1,5 Millionen Autos, rund ein Drittel der weltweit vorhandenen Fahrräder fuhr hierzulande. In den 1950er Jahren blieben sie neben Motorrädern noch als „Einstiegsfahrzeug in die automobile Gesellschaft“ bedeutsam. Der Radwegebau steckte damals in den Anfängen. Man fuhr gemeinsam mit den relativ wenigen Autos auf den Straßen. In vielen Städten führte das zu einem regen, oft chaotisch anmutenden Mischverkehr.

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung stiegen die meisten Menschen in Deutschland vom Fahrrad auf das Auto um. Das ermöglichte ihnen auch weitere und vom Wetter geschützte Fahrten. Das Fahrrad verlor an Bedeutung und bekam das Image eines „Arme Leute-Fahrzeugs“. In Ost- und Westdeutschland stand das Auto für Teilhabe der Menschen am wachsenden Wohlstand.
Wiederentdeckung des Radfahrens
Ab den 1970er Jahren hat der Radverkehr in der Bundesrepublik wieder stark zugenommen. Für den Aufstieg gab es verschiedene und zum Teil gegensätzliche Gründe. Fahrradbegeisterung symbolisierte um 1970 oft Naturverbundenheit und Ablehnung der automobilen Konsumgesellschaft. Als hochwertige Life-Style, Hobby- und Freizeitsport-Produkte wurden Fahrräder um 1980 nun zunehmend selbst Teil der modernen Konsumgesellschaft. Eine größere Themeninsel der Ausstellung stellt viele Facetten des Aufschwungs am Beispiel mehrerer Leitobjekte vor.


Die Trimm-dich-Bewegung
Der Deutsche Sportbund startete 1970 in der Bundesrepublik die groß angelegte Trimm-dich-Bewegung gegen Wohlstandskrankheiten der Konsumgesellschaft. Politik, Krankenkassen und Wirtschaft unterstützen diese Kampagne, bei der über das ganze Land verteilt „Trimm-dich-Pfade“ aufgebaut wurden. Das Maskottchen Trimmy warb als Kaugummi-Automaten- Figur oder auf Aufklebern für Sport und Bewegung. In der Sonderausstellung sind mehrere Werbeartikel und auch Werbespots zu sehen, zudem ein Fahrrad. Der Fahrradhersteller Hercules brachte 1979 passend zur „Trimm-dich“-Bewegung das Cavallo auf den Markt. Es fordert durch seinen ungewöhnlichen Antrieb den ganzen Körper. Hercules hoffte auf ein gutes Geschäft, doch der Erfolg blieb aus. Das Exemplar in der Ausstellung gehörte zu unverkauften Beständen, die Hercules den Angestellten der Nürnberger MAN-Werke günstig anbot.

Mountainbikes – nur eine neue, kurze Mode?
Einer der wichtigsten Impulse für den Wiederaufstieg des Fahrrads kam durch das Mountainbike. Es gab dem Fahrrad ein modernes Image von Freiheit und Abenteuer. Mountainbikes setzten Maßstäbe für den gesamten Fahrradbau und die Technik, etwa durch den Einsatz von Fahrradfederungen und breiteren Reifen. Deutsche Hersteller befürchteten zunächst einen kurzen Hype wie beim Bonanzarad. Auf Drängen der Kunden und Händler entwickelten Firmen wie Göricke um 1985 erste Modelle. Heute sind Mountainbikes und die durch sie direkt beeinflussten Fahrradtypen vom Markt nicht mehr wegzudenken. Sie werden in Bergen oder im Wald genutzt, aber oft auch im „Großstadtdschungel“.
BMX – Sport und Jugendkultur der 1980er Jahre
BMX (Bicycle Motocross) kam um 1970 in den USA auf. Jugendliche hatten Spaß daran, mit kleinen Rädern auf Motocross-Strecken zu fahren. Bald kamen erste organisierte Wettbewerbe auf und es entstand ein Markt für BMX. Neue Disziplinen kamen hinzu, wie etwa akrobatische Freestyle-Wettbewerbe. Seit 2008 ist BMX olympische Disziplin.
Mit dem CW Racing, das in der Ausstellung zu sehen ist, gewann Alexander Breest 1984 die erste BMX-Meisterschaft West-Berlins in seiner Altersklasse. Bilder seiner Kindheit im Märkischen Viertel zeigen: BMX wurde Teil der Jugendkultur, die sich den öffentlichen Raum von Neubausiedlungen erschloss. Gemeinsamkeiten mit der Skater‑, Sprayer‑, Breakdance- und frühen Hip- Hop-Szene sind sichtbar.


Breest
Magenta-Hype — Das Team Telekom
1997 gewannen Jan Ullrich und das Team Telekom die Einzel- und Mannschaftswertung der Tour de France. Das löste einen Radsport-Hype in Deutschland aus: Der Fahrradabsatz stieg 1997 bis 2000 von 4,5 auf 5,1 Millionen, Radsportvereine gewannen Mitglieder und neue Käufergruppen wurden erschlossen. Das im Radsport zu dieser Zeit sehr verbreitete Doping beendete diese Entwicklung. Nach mehreren Dopingskandalen stieg das Team Telekom 2007 endgültig aus dem Radsport aus.

Der Hype um das Team Telekom führte zu einer Flut an Werbe- und Merchandising-Artikeln: von Teddys, Trikots und Mützen bis hin zu Autogrammkarten sowie Playmobil- und Lego-Sets. In der Sonderausstellung zeigt ein Mountainbike von Schauff, wie der Begriff „Team Telekom“ im Farbspiel Magenta, Weiß und Silber vermarktet wurde. Das Team Telekom fuhr nur Rennräder.
Gamechanger — Pedelec und Lastenrad
Mit dem Aufschwung des Fahrrads setzten sich auch die Menschen in der Stadt wieder mehr auf den Sattel. Deutsche Städte blieben allerdings lange auf den Automobilverkehr zugeschnitten, ein flächendeckendes Radwegenetz entstand nicht. Nach der Jahrtausendwende bekam das Radfahren zusätzlich großen Schwung durch den Elektromotor und das Lastenrad. 2023 wurden in Deutschland erstmals mehr Elektroräder verkauft als Treträder.
Der Boom hatte zwei Gründe: moderne Akkutechnik und die Gesetzgebung. Seit 2007 gelten Pedelecs (Pedal Electric Cycle) mit einer Tretunterstützung bis 25 km/h rechtlich als Fahrrad. Führerschein, Kennzeichen und Haftpflichtversicherung sind nicht nötig. Es muss keine Kfz-Steuer gezahlt und kein Helm getragen werden. Eine Altersbeschränkung gibt es nicht und sie dürfen auf allen Radwegen fahren.
Ein Grund für die Gleichstellung war der neuartige Antrieb: Pedelecs zu fahren ähnelt dem Radfahren sehr. Menschen müssen treten, um den Motor in Gang zu bringen. Das unterscheidet sie von vorhergehenden Versuchen in Deutschland, Fahrräder zu motorisieren und sie rechtlich zu begünstigen. Ob Kleinkraftrad, Motorfahrrad, Moped oder Mofa — stets erfolgte die Regulierung des Motors durch einen Drehgriff am Lenker.
In Deutschland machen Pedelecs heute über 95 Prozent der verkauften Elektrofahrräder aus. Sie sind generationsübergreifend beliebt, in der Freizeit wie im Berufsverkehr. Ob Mountain- oder Citybike, Falt- oder Lastenrad, es gibt sie für alle Fahrradtypen.

Familienomnibus
Gerade das Lastenrad profitierte enorm von der Gesetzgebung. Ob für den Personen‑, Gewerbe- oder Lieferverkehr, Lastenräder haben heute meist einen Elektromotor. Besonders beliebt und verbreitet sind Lastenräder bei Familien für den Transport von Kindern. Die Neupreise sind zwar sehr hoch, aber in den vergangenen Jahren ist der Gebrauchtmarkt stark gewachsen.
Marktführer für die obere Mittelklasse im Familiensegment ist in vielen europäischen Ländern Urban Arrow aus Amsterdam. Seit Gründung 2011 hat die Firma rund 100.000 Lastenräder verkauft. Im Spätsommer 2024 wurde das neue Modell vorgestellt, das in der Sonderausstellung zu sehen ist. Es zeigt, dass sich moderne Lastenräder mit den Angeboten der Automobilindustrie messen können.
Konflikte erkennen und abbauen
So erfreulich der Aufschwung des Fahrrads ist: Der wachsende Radverkehr bei gleichzeitig oft schleppendem Ausbau des Radwegenetzes führt gerade in Städten immer wieder zu Konflikten zwischen den unterschiedlichen Verkehrsteilnehmenden.
Die Ausstellung thematisiert hierzu typische Gefahrenstellen und Konfliktherde, zeigt unterschiedliche Perspektiven und die Regulierung des Radverkehrs. Hierfür gibt es interaktive Elemente: zum Toten Winkel und Dooring oder zu den vielen unterschiedlichen Radverkehrszeichen. Interviews und Filmaufnahmen zeigen auf Medienstationen Menschen, die auf verschiedene Art am Verkehr teilnehmen.
Ziel der Ausstellung ist es, Vorurteile und Fronten zwischen den Verkehrsteilnehmenden abzubauen. Und Verständnis dafür schaffen, die Radinfrastruktur in Deutschland weiter umfassend aufzubauen.