Eine ambivalente Beziehung
Mit dem globalen Aufstieg sozialer Netzwerke und deren Potenzial, Menschen zu verbinden, war die Hoffnung verknüpft, dass sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Oft dominiert jedoch der gegenteilige Eindruck: Soziale Netzwerke scheinen eher spaltend als verbindend zu wirken. Doch entspricht dies der Realität?

Die Charakteristika sozialer Netzwerke
Soziale Netzwerke haben die Art und Weise, wie wir kommunizieren, Informationen konsumieren und soziale Beziehungen pflegen, grundlegend verändert. Grundsätzlich bestehen soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram und TikTok aus vier Kernelementen: Profile, Netzwerke, Informationsströme und Nachrichten.1 Ein Profil enthält grundlegende Informationen über eine Person, ein Unternehmen oder eine Organisation sowie deren geteilte Inhalte wie Fotos, Videos oder Texte. Das Netzwerk entsteht durch die Verbindungen zwischen diesen Profilen, die einseitig oder gegenseitig sein können. Der Informationsstrom – auch Feed genannt – zeigt Inhalte von Profilen an. Algorithmen bestimmen dabei mit, welche Inhalte in welcher Reihenfolge erscheinen, basierend auf Faktoren wie Verbundenheit, Beliebtheit oder persönlichen Interessen. Nutzer*innen können mit Profilen anderer Nutzer*innen interagieren, indem sie deren Inhalte mit Ein-Klick-Aktionen („Liken“) bewerten oder öffentliche oder private Nachrichten austauschen.
Algorithmen bestimmen, welche Inhalte in welcher Reihenfolge erscheinen.
Doch welche Auswirkungen haben soziale Netzwerke nicht nur auf das Individuum, sondern auch auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht durch das Zusammenspiel von Beziehungen, Gruppenbindungen und geteilten Wahrnehmungen, die Verbundenheit und Solidarität fördern – oder bei ihrem Fehlen zu Konflikten führen. Das Gefühl der Verbundenheit stellt ein zentrales Element sozialen Zusammenhalts dar. Angesichts der Möglichkeit, sich mithilfe sozialer Netzwerke binnen Sekunden mit Menschen auf der ganzen Welt zu vernetzen, liegt die Annahme nahe, dass diese einen positiven Einfluss auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt ausüben sollten. Dagegen steht jedoch, dass soziale Netzwerke zunehmend mit Polarisierung, Desinformation und Vereinsamung in Verbindung gebracht werden. In welche Richtung schlägt das Pendel also aus: in Richtung Zusammenhalt oder Spaltung?
Soziale Netzwerke als Bindeglied
Es gibt einige Faktoren, die dafürsprechen, dass soziale Netzwerke den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern können. Soziale Netzwerke ermöglichen Menschen das Knüpfen neuer Kontakte und die Bildung von Gemeinschaften, die über geografische Grenzen hinausgehen.2 So können Menschen weltweit miteinander in Kontakt treten und Beziehungen aufbauen, die im analogen Raum womöglich nie zustande gekommen wären. Daneben bieten soziale Netzwerke Möglichkeiten für den Austausch zwischen Menschen mit unterschiedlichen sozialen, kulturellen oder politischen Hintergründen. Sie bieten somit einen niedrigschwelligen Zugang zu einer Bandbreite an Perspektiven, Erfahrungsschätzen und Wissen, der im analogen Leben nahezu unmöglich ist. Durch die Erweiterung des eigenen Netzwerks über bestehende Gruppengrenzen hinweg können Nutzer*innen voneinander lernen, sich austauschen und gegenseitiges Verständnis füreinander entwickeln.
Zudem können soziale Netzwerke politische Mobilisierung und gesellschaftliche Teilhabe fördern. Nutzer*innen können sich durch niederschwellige Beteiligungsformen wie das Verfassen und Teilen von Inhalten in gesellschaftliche Debatten einbringen sowie eigene Perspektiven mit dem Netzwerk teilen. Darüber hinaus können marginalisierte Gruppen Unterstützung und Zugehörigkeit erfahren.3 Besonders für Menschen, die aufgrund von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung oder anderer Faktoren Diskriminierung erfahren, können hier ihre Perspektiven teilen und auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen. Dies unterstützt dabei, gesellschaftliche Spaltungen zu überwinden, indem Menschen für verschiedene Sichtweisen sensibilisiert werden und digitale Räume des Austauschs und der Empathie entstehen. Beispielhaft seien an dieser Stelle die Bewegungen #MeToo und #BlackLivesMatter erwähnt, die soziale Ungerechtigkeiten sichtbarer gemacht, Bewusstsein geschaffen sowie politische Debatten angestoßen haben.

Auch in Krisenzeiten zeigen sich die positiven Effekte der Vernetzung über Plattformen wie Facebook und Co.: Über soziale Netzwerke lassen sich schnell Informationen verbreiten und Hilfsaktionen koordinieren. Beispielsweise können im Falle von Großereignissen wie Naturkatastrophen soziale Netzwerke als essenzielle Kommunikationskanäle dienen, da sie es ermöglichen, Informationen in Echtzeit auszutauschen oder lokale Hilfsinitiativen zu organisieren.4 Auch internationale Hilfsaktionen können von der Vernetzung über soziale Netzwerke profitieren – Spendenkampagnen oder Freiwilligeninitiativen können innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl von Menschen erreichen und direkte Wirkung entfalten. Eines der womöglich prominentesten Beispiele ist hier die Ice Bucket Challenge, die vor allem durch das Teilen in sozialen Netzwerken das Bewusstsein für die Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) schärfte und zugleich die Spendeneinnahmen für deren Erforschung erheblich steigerte.

Die Schattenseiten: Spaltung statt Zusammenhalt
Neben den positiven Aspekten bringen soziale Netzwerke jedoch auch eine Reihe von Herausforderungen mit sich, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt negativ beeinflussen können. Die Zusammensetzung des eigenen Netzwerks sowie Algorithmen personalisieren den Feed, sodass für jede Person eine andere digitale Realität abgebildet wird. Wie im analogen Raum tendieren Nutzer*innen dazu, eher mit einem ihnen ähnlichen Netzwerk verbunden zu sein. Zusätzlich selektieren Algorithmen Inhalte, die am besten zu den eigenen Interessen passen. Dadurch können sogenannte Filterblasen und Echokammern erzeugt werden, in denen Nutzer*innen vorrangig mit Gleichgesinnten interagieren und alternative Perspektiven weniger präsent sind. Dies kann langfristig zur Polarisierung der Gesellschaft beitragen, da sich konträre Perspektiven weiter voneinander entfernen.
Soziale Netzwerke zeichnen sich durch einen höheren Grad an Anonymität aus, als es im analogen Raum der Fall ist. Dies kann dazu führen, dass manche Nutzer*innen Umgangsformen an den Tag legen, die sie in einem Gespräch von Angesicht zu Angesicht vermeiden würden. Studien haben ergeben, dass Nutzer*innen durchschnittlich bei jedem zweiten Besuch auf sozialen Netzwerken negative Kommunikationsformen beobachten können.5 Dies kann weitreichende Konsequenzen haben. Zum einen kann die vermehrte Wahrnehmung respektlosen Umgangs in sozialen Netzwerken dazu führen, dass immer mehr Nutzer*innen selbst diese Art der Kommunikation übernehmen. Zum anderen können derlei unerwünschte Kommunikationsformen zu einer erhöhten Polarisierung führen.6 Ebenfalls könnten Nutzer*innen, die negativen Interaktionen wie Hasskommentaren ausgesetzt sind, den sozialen Netzwerken den Rücken kehren, was wiederum die Diskussionsvielfalt einschränkt.

Weiterhin sind die Algorithmen der großen sozialen Netzwerke so programmiert, dass sie polarisierenden oder emotional aufgeladenen Inhalten mehr Sichtbarkeit in den Feeds verleihen. Konfliktverschärfende Inhalte werden somit von den Nutzer*innen häufiger wahrgenommen. Algorithmen bevorzugen solche Inhalte, da diese besonders häufig angeklickt, geteilt und kommentiert werden – und damit die Verweildauer der Nutzer*innen auf den Plattformen erhöhen. Zusätzlich verbreiten sich durch den Mangel an redaktioneller Kontrolle und Algorithmen bewusst wie unbewusst gestreute Falschinformationen schneller und weiter als überprüfte Fakten.7 Wenn sich Falschinformationen in gesellschaftlichen Debatten festsetzen, kann dies das Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse, demokratische Prozesse und journalistische Institutionen untergraben. Dies wurde beispielsweise während der COVID-19-Pandemie deutlich, als die Verbreitung von Falschinformationen über Impfstoffe ein erhebliches Risiko für die Gesundheit der Bevölkerung darstellten.8
Obwohl sich immer mehr Menschen digital miteinander vernetzen, zeigen Umfragen steigende Raten von Einsamkeit. Ein beeinflussender Faktor könnten hierbei soziale Netzwerke sein, wenn oberflächliche virtuelle Kontakte an die Stelle direkter zwischenmenschlicher Interaktionen treten.9 Soziale Netzwerke geben durch geteilte Inhalte Einblicke in das Leben anderer und vermitteln dadurch ein Gefühl von Nähe. Jedoch kann diese Form der Vernetzung einseitig sein und echte soziale Bindungen nicht ersetzen. Derlei Nutzungsmuster fördern so eher soziale Isolation als echte Gemeinschaft.
Zwischen Plattformdesign, Regulierung und Eigenverantwortung
Die Auswirkungen sozialer Netzwerke auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt sind nicht eindeutig zu bewerten. Zum einen hängen die Auswirkungen von der individuellen Nutzung ab, die maßgeblich beeinflusst, ob Plattformen verbindend oder spaltend wirken. Während Einige soziale Netzwerke nutzen, um Beziehungen zu stärken und neue Perspektiven zu gewinnen, erleben andere verstärkte Isolation oder werden Opfer von Desinformation. Während die erste Art der Nutzung tendenziell dazu führt, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, wird die zweite Art eher zu einer Spaltung führen. Diese differenzierte Wirkung zeigt, dass soziale Netzwerke nicht per se den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern oder untergraben, sondern entscheidend ist, wie sie konkret genutzt werden. Entsprechend werden sie im wissenschaftlichen Diskurs als „zweischneidiges Schwert“ angesehen. Während sie das Potenzial haben, soziale Verbindungen zu stärken und gesellschaftlichen Wandel zu fördern, bergen sie zugleich erhebliche Herausforderungen.
Um die positiven Seiten sozialer Netzwerke zu stärken, ist eine gemeinschaftliche Anstrengung von Plattformbetreiber*innen, Politik und Nutzer*innen notwendig. Plattformbetreiber*innen sollten transparente und ethische Designentscheidungen treffen. Beispielsweise sollte offengelegt werden wie genutzte Algorithmen arbeiten. Auch sollten Nutzer*innen wählen dürfen, wie die Algorithmen ihnen Inhalte präsentieren. Außerdem besteht kontinuierlicher Handlungsbedarf aufseiten der Politik. Es bedarf weitreichender gesetzlicher Regulierungen, die Plattformbetreiber*innen Vorgaben machen. Das europaweit geltende Gesetz über digitale Dienste kann hierbei als ein essenzieller Schritt gesehen werden, um Nutzer*innen zu schützen und Plattformbetreiber*innen in die Pflicht zu nehmen. Auch die Nutzer*innen selbst können dazu beitragen, digitale Räume zu einem positiven Ort des Zusammenhalts zu machen. Ein bewusster Umgang mit sozialen Netzwerken – sei es durch die kritische Reflexion des Einflusses von Algorithmen, die aktive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven oder das Einsetzen für eine konstruktive Kommunikationskultur – kann dazu beitragen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf den Plattformen zu fördern.
- Joseph B. Bayer/Penny Triêu/Nicole B. Ellison: Social Media Elements, Ecologies, and Effects, in: Annual Review of Psychology, Vol. 71 (2020), No. 4, S. 471–497. ↩︎
- Nicole B. Ellison/Charles Steinfield/Cliff Lampe: The Benefits of Facebook “Friends”: Social Capital and College Students’ Use of Online Social Network Sites, in: Journal of Computer- Mediated Communication, Vol. 12 (2007), No. 4, S. 1143–1168. ↩︎
- Jose Ortiz/Amber Young/Michael D. Myers/Rudolph T. Bedeley/Donal Carbaugh/Hameed Chughtai/Elizabeth Davidson/Jordana George/Janis Gogan/Steven Gordon/Eean Grimshaw/ Dorothy E. Leidner/Margaret Pulver/Ariel Wigdor: The Use of Digital Technologies by Marginalized Groups, in: Communications of the Association for Information Systems, Vol. 45 (2019), No. 1, S. 20–38. ↩︎
- Carmen Mei Ling Leong/Shan L. Pan/Peter Ractham/Laddawan Kaewkitipong: ICT-Enabled Community Empowerment in Crisis Response: Social Media in Thailand Flooding 2011, in: Journal of the Association for Information Systems, Vol. 16, (2015), No. 3, S. 174–212. ↩︎
- Daniel J. Sude/Shira Dvir-Gvirsman: Different Platforms, Different Uses: Testing the Effect of Platforms and Individual Differenceson Perception of Incivility and Self-reported Uncivil Behavior, in: Journal of Computer-Mediated Communication, Vol. 28 (2023), No. 2. ↩︎
- Ashley A. Anderson/Dominique Brossard/Dietram A. Scheufele/Michael A. Xenos/Peter Ladwig: The “Nasty Effect:” Online Incivility and Risk Perceptions of Emerging Technologies, in: Journal of Computer-Mediated Communication, Vol. 19 (2014), No. 3, S. 373–387. ↩︎
- Soroush Vosoughi/Deb Roy/Sinan Aral: The Spread of True and False News Online, in: Science, Vol. 359 (2018), No. 6380, S. 1146–1151. ↩︎
- Jennifer Allen/Duncan J. Watts/David G. Rand: Quantifying the Impact of Misinformation and Vaccine-Skeptical Content on Facebook, in: Science, Vol. 384 (2024), No. 6699. ↩︎
- Patti M. Valkenburg/Jochen Peter: Online Communication and Adolescent Well-Being: Testing the Stimulation versus the Displacement Hypothesis, in: Journal of Computer-Mediated Communication, Vol. 12 (2007), No. 4, S. 1169–1182. ↩︎