Das Fahr­rad und die Deutschen

Kein ent­spann­tes Verhältnis

Das Fahr­rad gilt als die gro­ße Hoff­nung bei der Bewäl­ti­gung der Ver­kehrs­pro­ble­me. Kein ande­res Ver­kehrs­mit­tel ist so nach­hal­tig, die Bedie­nung so ein­fach und noch dazu hält es fit. Gemes­sen an die­sen Poten­zia­len tut sich aber ein­fach zu wenig. Denn es ist immer noch ein schwie­ri­ges Ver­hält­nis, das Deutsch­land mit dem Fahr­rad hat.

Obwohl Karl von Drais schon 1817 mit sei­ner Lauf­ma­schi­ne eine bedeu­ten­de Pio­nier­leis­tung erbracht hat und Deutsch­land damit in gewis­ser Wei­se auch Fahr­rad­er­fin­der­land ist, bleibt das Ver­hält­nis zum Fahr­rad im Auto­land wei­ter­hin ver­krampft. Weni­ge fah­ren viel und auf­wen­dig und set­zen ande­re damit mora­lisch und prak­tisch unter Druck. Auch die Lob­by­ar­beit erscheint mehr puri­ta­nisch gesteu­ert als mit poli­ti­schem Kal­kül kon­zi­piert und das Fahr­rad als Wirt­schafts­macht bleibt immer noch unerkannt.

Das Fahr­rad als Verkehrsmittel

Seit Jah­ren wird das Fahr­rad gelobt, hofiert und immer wie­der als Alter­na­ti­ve zum Auto emp­foh­len. Rund 90 Pro­zent aller Wege in Deutsch­land sind kei­ne zehn Kilo­me­ter lang, das ist eine gute Distanz um viel Fahr­rad zu fah­ren. In man­chen Städ­ten, Bre­men oder Leip­zig bei­spiels­wei­se, domi­niert das Rad bereits die Ver­kehrs­land­schaft und ist belieb­ter als das Auto. Über­all wo die Stadt­struk­tu­ren kom­pakt und die Fahr­rad­in­fra­struk­tur gut ist, wer­den bereits die meis­ten Wege mit dem Rad absol­viert. Aber im Rest von Deutsch­land sieht es düs­ter aus. Bun­des­weit hat das Rad gera­de mal einen Anteil von knapp drei­zehn Pro­zent am Ver­kehrs­markt. Die Ten­denz ist sta­gnie­rend. Die Zahl der Rad­we­ge wächst nur noch sehr lang­sam, zwi­schen 300 und 400 Mil­lio­nen Euro konn­ten in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ver­baut wer­den. Dabei lag es nicht am nöti­gen Geld. In den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren waren näm­lich deut­lich mehr Bun­des­mit­tel ver­füg­bar, als die Kom­mu­nen wirk­lich abru­fen konnten.

Man kommt nicht so recht vor­an mit dem Fahr­rad. Das hat Grün­de. Auf einer Jubi­lä­ums­ver­an­stal­tung des All­ge­mei­nen Deut­schen Fahr­rad­clubs (ADFC) im Früh­jahr 2024 sahen sich die Mode­ra­to­rin sowie nahe­zu alle Bei­tra­gen­den bemü­ßigt, bei allen Bei­trä­gen zunächst ein­mal Bekennt­nis­se pro Fahr­rad abzu­ge­ben. Ja, ich fah­re natür­lich täg­lich mit dem Rad. Ja, ich mache dies schon seit Kind­heits­ta­gen und so wei­ter und so fort. Wür­de man sol­che Bekennt­nis­se auch bei einer Tagung bei­spiels­wei­se des ADAC erwar­ten in etwa wie: Ich muss das jetzt hier mal sagen: Ja, ich fah­re Auto. Nein, doch eher nicht.

Immer im “Namen des Herrn” unterwegs

Fahr­rad­fah­ren ist bis heu­te in Deutsch­land kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit, es braucht ganz offen­kun­dig selbst auf Lob­by­ver­an­stal­tun­gen immer noch Bekennt­nis­se! Das Fahr­rad ist im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis immer noch als Mas­sen­trans­port­mit­tel für Arme ein­ge­schrie­ben. Die Bedeu­tung des Fahr­rads in Deutsch­land wirkt ver­krampft und eben auch völ­lig über­trie­ben. Wenn Rad gefah­ren wird, dann rich­tig: Die aller­neu­es­te Mon­tur und die teu­ers­te Tech­nik sind gera­de gut genug. Da mitt­ler­wei­le fast 50 Pro­zent der Neu­ver­käu­fe eine elek­tri­sche Unter­stüt­zung haben, ist aller­dings den Puris­ten in der Fahr­rad­bran­che ein Dorn im Auge. Das Fahr­rad als nor­ma­les All­tags­ver­kehrs­mit­tel kommt nicht vor. Als Land­wirt­schafts­mi­nis­ter Cem Özd­emir sei­ne Ernen­nungs­ur­kun­de beim Bun­des­prä­si­den­ten mit dem Fahr­rad abhol­te, konn­te man die Bil­der als Kurio­si­tät in allen Medi­en bestau­nen. Es war außergewöhnlich.

Die poli­ti­sche Lob­by­ar­beit passt ins Bild. Die Bran­che tritt kei­nes­wegs geschlos­sen auf, die Struk­tu­ren sind zer­split­tert, die Stra­te­gie sehr defen­siv ange­legt, weil man ja im Glau­ben ist, „im Namen des Herrn“ unter­wegs und immer im Recht zu sein. Damit bleibt die poli­ti­sche Stra­te­gie im Kern eine mora­li­sche. Das Fahr­rad­fah­ren ist gut und muss des­halb geför­dert wer­den. Dass man eine Geschich­te oder – neu­deutsch – ein Nar­ra­tiv braucht, ist not­wen­dig und auch rich­tig. Die Bran­che und ihre Lob­by­is­ten ver­ges­sen dabei aber, dass die poli­ti­sche Land­schaft so nicht funk­tio­niert, son­dern die Vor­tei­le und Vor­zü­ge des Fahr­ra­des tat­säch­lich macht­po­li­tisch her­ge­stellt wer­den müs­sen. So wie die Lob­by­ar­beit zur­zeit auf­ge­stellt ist, erzwingt sie bei zustän­di­gen Poli­ti­kern nur Gewis­sens­bis­se: Ja, man soll­te und man müss­te sicher­lich mehr tun.

Es muss tat­säch­lich mehr getan wer­den. Der zen­tra­le Eng­pass ist und bleibt die Infra­struk­tur. Es gibt in der vom Auto domi­nier­ten Ver­kehrs­land­schaft schlicht ein­fach kei­nen Platz für Fahr­rä­der. Das liegt dar­an, dass der Bau der Fahr­rad­ver­kehrs­an­la­gen eine Auf­ga­be der kom­mu­na­len Ver­kehrs­pla­nung ist und erst dann in Angriff genom­men wird, wenn alles ande­re im Stra­ßen­ver­kehr zum Woh­le der Autos bereits gemacht ist. Der Druck, den­noch mehr zu machen, kommt weni­ger von den Lob­by­ver­bän­den, als von der Zivil­ge­sell­schaft. Sehr erfolg­reich sind Radent­schei­de, die als demo­kra­tisch legi­ti­mier­tes Mit­tel mit Hil­fe von Volks­be­geh­ren und Volks­ent­schei­den wirk­sa­men Druck auf Legis­la­ti­ve und Exe­ku­ti­ve aus­üben konn­ten. In Ber­lin kam am Ende sogar erst­mals ein gan­zes Mobi­li­täts­ge­setz für ein Bun­des­land her­aus, bei dem die För­de­rung des Fahr­ra­des als poli­ti­sches Ziel dekla­riert wurde.

Ein Radweg mit gelber Fahrradmarkierung auf einem schattigen Weg entlang einer Straße. Im Hintergrund fahren zwei Radfahrer. Links ist eine Baustelle zu sehen, rechts stehen Bäume und ein Zaun.

Man reibt sich zwar bei der Lek­tü­re immer noch die Augen, dass dies ange­sichts der hohen Zahl an Rad­fah­ren­den not­wen­dig ist, aber so ist im Auto­land Deutsch­land die Rea­li­tät. Das sicht­bars­te und wir­kungs­volls­te Zei­chen, dem Fahr­rad eine neue Bedeu­tung ein­zu­räu­men, war die Ent­schei­dung des Bezirks Fried­richs­hain- Kreuz­berg, mit­ten in der Pan­de­mie so genann­te Pop-up-Fahr­rad­we­ge ein­zu­rich­ten, eine unmit­tel­ba­re Fol­ge des Mobi­li­täts­ge­set­zes. So wur­de auf vier­spu­ri­gen Stra­ßen ein Fahr­strei­fen ein­ge­zo­gen und Park­plät­ze zuguns­ten eines mar­kier­ten und geschütz­ten Rad­we­ges abge­schafft. Der bau­li­che Auf­wand war sehr gering, das damit gesetz­te poli­ti­sche Zei­chen dafür umso grö­ßer! Die Dekla­rie­rung als „Pop-up“ erwies sich des­halb als schlau, weil damit eine Vor­läu­fig­keit mit der Bot­schaft aus­ge­ru­fen wur­de, dass man prin­zi­pi­ell bei Nicht­ge­fal­len alles wie­der rück­gän­gig machen könn­te. Eine wirk­sa­me tak­ti­sche Maß­nah­me, die dazu führ­te, dass mit­ten in Kreuz­berg das Abend­land doch nicht unterging.

Nach nun mitt­ler­wei­le drei Jah­ren Pro­vi­so­ri­um will nie­mand mehr zurück zum alten Zustand. Aus einer ehe­ma­li­gen Stra­ßen­schlucht mit lau­tem Ver­kehr war fast eine Fla­nier­mei­le gewor­den, die kei­ner mehr mis­sen will. Mit­ten in Kreuz­berg wird damit demons­triert, wel­che Fol­gen der Aus­bau der Fahr­rad­we­ge wirk­lich hat: die Städ­te bele­ben sich wie­der, es kommt zu mehr Geschäf­tig­keit und – ein bis heu­te immer noch nicht aner­kann­ter Sach­ver­halt – die Ein­zel­han­dels­um­sät­ze stei­gen. Die zu Fuß Gehen­den und die mit dem Rad sind die Umsatz­brin­ger in den Innen­städ­ten. Autos stö­ren eher, weil sich das Ein­kaufs- und Kon­sum­ver­hal­ten im Zei­chen der Digi­ta­li­sie­rung ver­än­dert hat. Was zählt ist Aufenthaltsqualität.

Obwohl über die Pop-up-Rad­we­ge im In- und Aus­land viel berich­tet wur­de, blei­ben flä­chen­de­cken­de Nach­fol­ge­pro­jek­te aus. Denn das eigent­lich Beson­de­re an den Pop-ups war der Mut, die­se über­haupt gegen ver­meint­lich vie­le Gegen­stim­men ein­zu­rich­ten. Und hier liegt der Hase im Pfef­fer: In den Kom­mu­nen fehlt es an die­sem Mut, weil unmit­tel­bar vor Ort natür­lich die Betrof­fen­heit bei Umge­stal­tun­gen im Ver­kehrs­raum immer groß ist. Ver­kehr ist zu aller­erst eine Rou­ti­ne­an­ge­le­gen­heit, jede Ände­rung wird als eine Belas­tung emp­fun­den und kri­tisch gese­hen. Erst im Nach­hin­ein, wenn die neue Situa­ti­on getes­tet und als brauch­bar ange­nom­men wur­de, ändern sich die Ein­stel­lun­gen. In Deutsch­land gehört dem Auto der Platz für den flie­ßen­den und ruhen­den Ver­kehr. Dafür sind die bau­li­chen Vor­keh­run­gen gedacht und die recht­li­che Ord­nung gemacht. Kom­mu­nen sind daher immer so etwas wie in Gei­sel­haft. Einer­seits gibt es Druck zu Ver­än­de­run­gen, aber es muss auch der Wider­stand ein­kal­ku­liert wer­den, der die Öffent­lich­keit mobi­li­siert und oft genug vor den Ver­wal­tungs­ge­rich­ten lan­det und die Muti­gen wie­der zur Räson bringt.

Poli­tik tut not

Es zeigt sich, dass die Kom­mu­nen für den Bau von Fahr­rad­ver­kehrs­an­la­gen zwar der zustän­di­ge Akteur sind, dass hier aber struk­tu­rel­le Pro­ble­me der Rea­li­sie­rung bestehen. Denn der nur schlep­pen­de Aus­bau der Infra­struk­tur spricht Bän­de. Nach mehr als 20 Jah­ren Debat­ten um die feh­len­de Dyna­mik soll­te die­ser Eng­pass ein­mal aner­kannt und gelöst wer­den. Dem Mot­to fol­gend „vom Auto ler­nen, heißt sie­gen ler­nen“, wäre eine Fol­ge­rung, die Finan­zie­rung, Pla­nung und den Bau von Fahr­rad­an­la­gen in pro­fes­sio­nel­le Hän­de zu über­füh­ren und ana­log der Deut­schen Auto­bahn GmbH eine Deut­sche Fahr­rad­bau GmbH zu grün­den, die bun­des­weit die Res­sour­cen und die Kom­pe­ten­zen bün­delt. Kom­mu­nen könn­ten dann, ver­mit­telt und sor­tiert über die Bun­des­län­der, ihre Fahr­rad­in­fra­struk­tur „bestel­len“. Damit wäre in den Bau von Fahr­rad­ver­kehrs­an­la­gen die not­wen­di­ge Pro­fes­sio­na­li­tät ein­ge­zo­gen, die Mit­tel wür­den man­gels aus­rei­chen­der Kom­pe­ten­zen und Kapa­zi­tä­ten nicht ver­fal­len, weil sicher­lich damit zu rech­nen ist, dass mehr Bestel­lun­gen vor­lie­gen als gebaut wer­den kann.

Dafür müss­te bei den Lob­by­ver­bän­den aber die Ein­sicht rei­fen, dass mehr zu machen ist als Appel­le zu ver­ab­schie­den und par­la­men­ta­ri­sche Aben­de zu ver­an­stal­ten. Par­al­lel wür­de auch die Rechts­pfle­ge vor­an­ge­trie­ben wer­den. Im Mit­tel­punkt steht dabei immer die Stra­ßen­ver­kehrs­ord­nung (StVO), die vom Stra­ßen­ver­kehrs­ge­setz abge­lei­tet ist; bei­de sind Bun­des­an­ge­le­gen­hei­ten. Die­se sind aber stark auf die Opti­mie­rung des Auto­ver­kehrs aus­ge­rich­tet und las­sen Ein­grif­fe nur zu, wenn es bereits Unfäl­le gege­ben hat. Zwar wur­den Gesetz und Ver­ord­nung im Jah­re 2024 novel­liert und erst­mals kön­nen auch ver­kehrs­recht­li­che Anord­nun­gen zuguns­ten von Fahr­rad­we­gen vor­ge­nom­men wer­den, aber die Spiel­räu­me enden immer wie­der bei der Leich­tig­keit und Sicher­heit des Auto­ver­kehrs. Viel erfolg­rei­cher wäre es, mit den Stra­ßen­ge­set­zen der Län­der zu ope­rie­ren. Hier wer­den nicht die Ver­kehrs­re­geln defi­niert, son­dern der Cha­rak­ter der Stra­ße bestimmt. Bei­spiel­wei­se kön­nen hier­über leich­ter Fahr­rad­stra­ßen ein­ge­führt und über­haupt nur noch sol­che Stra­ßen für den Betrieb zuge­las­sen wer­den, die über einen siche­ren Fahr­rad­weg verfügen.

Aber auch die­se Maß­nah­men allein rei­chen nicht aus, das Fahr­rad zu einer All­täg­lich­keit wer­den zu las­sen, zu einer unhin­ter­frag­ten Rea­li­tät. Was fehlt, ist eine brei­te kul­tu­rel­le Ver­an­ke­rung des Fahr­rads. Die Bran­che wird viel zu sehr von Men­schen geprägt, die min­des­tens 100 Kilo­me­ter in der Woche fah­ren und miss­mu­tig auf die her­ab­bli­cken, die das nicht können.

Es müs­sen mehr Bil­der vom Fahr­rad als all­täg­li­chem Ver­kehrs­mit­tel erzeugt wer­den. Die Tat­ort-Rei­hen des Fern­se­hens aus Saar­brü­cken und Müns­ter waren schon mal ein Anfang, aber die Figu­ren blie­ben Außen­sei­ter und Son­der­lin­ge, nicht ver­all­ge­mein­bar. Es müs­sen Reprä­sen­tan­ten aus der Mit­te der Gesell­schaft gefun­den wer­den, für die das Rad ein­fach ein all­täg­li­ches Ver­kehrs­mit­tel ist, die dar­über nichts erzäh­len, nicht mit neu­en Fea­tures und dem Tages­ki­lo­me­ter­pen­sum ange­ben, son­dern es ein­fach nur jeden Tag selbst­ver­ständ­lich nutzen.

Andre­as Knie

Andreas Knie ist Professor für Soziologie an der TU Berlin und leitet gemeinsam mit Weert Canzler die Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).