Ver­kehr ist kein Wasser

Ver­än­de­rung ist möglich

In Deutsch­land haben wir Pro­ble­me mit dem Ver­kehr. Doch weil es kei­nen Kon­sens über die Pro­ble­me gibt, kom­men wir nie dazu, über Lösun­gen zu reden. So staut sich der deut­sche Ver­kehr vor sich hin, wäh­rend alle unzu­frie­den sind und die CO2-Emis­sio­nen wei­ter stei­gen. Anhand eini­ger Bei­spie­le soll gezeigt wer­den, wie ähn­li­che Ver­kehrs­pro­ble­me anders­wo gelöst werden.

Deutsch­land ist ein Auto­land. Die Lie­be der Deut­schen zu ihrem Kraft­fahr­zeug (Kfz) ist legen­där. Den Deut­schen das Rad­fah­ren schmack­haft zu machen, ist zum Schei­tern ver­ur­teilt – Öko­lo­gie hin oder her. Ist Deutsch­land wirk­lich so anders? 

Schau­en wir uns Kopen­ha­gen an. Heu­te wer­den hier 35 Pro­zent der Wege mit dem Fahr­rad zurück­ge­legt. Aber das war lan­ge anders. In den 1960er Jah­ren gab es weit­rei­chen­de Plä­ne für den Aus­bau der däni­schen Haupt­stadt zur „auto­ge­rech­ten Stadt“: Ein Jahr­zehnt zuvor wur­den fünf Schnell­stra­ßen ange­legt – der soge­nann­te Fin­ger­plan –, die den Auto­ver­kehr zügig in die Stadt brin­gen soll­ten. Die Krö­nung soll­te aber der Bau eines Hafen­tun­nels und eines zwölf­spu­ri­gen Stadt­au­to­bahn­rings bis ins Zen­trum wer­den. Unzäh­li­ge Häu­ser wur­den auf­ge­kauft und abge­ris­sen. Geplant war, ein gigan­ti­sches Auto­bahn­kreuz neben dem Haupt­bahn­hof anzu­le­gen. 1972 wur­de die Tram, die seit 1863 die Kopenhagener*innen mit einem 100 Kilo­me­ter lan­gen Lini­en­netz durch die Stadt beför­dert hat­te, kom­plett abge­ris­sen und in Tei­len nach Alex­an­dria in Ägyp­ten ver­kauft, wo sie heu­te noch fährt. Es muss­te mehr Platz für Autos her. An eine Fahr­rad­stadt dach­te damals wirk­lich nie­mand. Dann kam 1973 schlag­ar­tig die Ölkri­se mit auto­frei­en Sonn­ta­gen und ver­än­der­te alles. Die Ölprei­se ver­dop­pel­ten sich und das bewirk­te ein Umden­ken: Plötz­lich wur­de allen klar, dass Ener­gie ers­tens nicht ein­fach da ist und zwei­tens, dass Euro­pa die Kon­trol­le dar­über nicht hat­te. Die extrem teu­ren Auto­bahn-Aus­bau­plä­ne wur­den ad acta gelegt, und man wech­sel­te den Fokus auf ener­gie­spar­sa­me Vari­an­ten wie ÖPNV und Fahr­rad. Über 40 Jah­re spä­ter ist Kopen­ha­gen eine ech­te Fahr­rad­stadt. Es wur­den ein Netz an Rad­we­gen und die soge­nann­ten „Super­rad­we­ge“ ange­legt, die Pendler*innen zügig und sicher in die Stadt brin­gen. Park­plät­ze wur­den ver­teu­ert und ihre Anzahl über die Jah­re dras­tisch redu­ziert. Es gibt immer noch Auto­ver­kehr, und zwar 260 Autos auf 1000 Einwohner*innen, aber die Kos­ten, die Kopen­ha­gen jähr­lich durch das Rad­fah­ren spart – im Gesund­heits­be­reich, im Stra­ßen­bau und bei der Effi­zi­enz­stei­ge­rung im Arbeits­sek­tor – kön­nen für die nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung der Stadt aus­ge­ge­ben wer­den. Heu­te fah­ren die Kopenhagener*innen Fahr­rad, weil es ein­fach, sicher und schnell ist. Nie­mand, wirk­lich nie­mand wünscht sich die zwölf­spu­ri­ge Stadt­au­to­bahn zurück.

Ver­kehrs­si­cher­heit ist eine Fra­ge der Prioritäten

In Deutsch­land ster­ben knapp 3000 Men­schen jähr­lich im Stra­ßen­ver­kehr. Die Zah­len sin­ken zwar erfreu­li­cher­wei­se, aber unter den Ver­kehrs­op­fern sind zuneh­mend mehr Fußgänger*innen und Rad­fah­ren­de. Tech­ni­sche Ver­bes­se­run­gen der Kfz führ­ten dazu, dass die Insas­sen heu­te bes­ser geschützt sind. Men­schen ohne Blech­pan­zer dage­gen zie­hen den Kürzeren. 

Mit dem Kon­zept „Visi­on Zero“, das ursprüng­lich schwe­di­sche Arbeits­plät­ze siche­rer machen soll­te, gelingt es eini­gen Städ­ten, die Zahl der Ver­kehrs­to­ten dras­tisch zu reduzieren.

Der alles ent­schei­den­de Fak­tor heißt Geschwindigkeitsbegrenzung!

In Hel­sin­ki und Oslo – bei­de Städ­te ver­zeich­nen kei­ne Ver­kehrs­to­ten – wur­de Tem­po 30 flä­chen­de­ckend ein­ge­führt. In Hel­sin­ki hat man seit den 1990er Jah­ren Boden­schwel­len und Kreis­ver­keh­re ein­ge­rich­tet, um den moto­ri­sier­ten Kfz-Ver­kehr zu ver­lang­sa­men. Seit 2018 gilt Tem­po 30 – außer auf eini­gen Schnell­stra­ßen, die wie­der­um für Fußgänger*innen und Rad­fah­ren­de gesperrt sind. Eine wei­te­re wich­ti­ge Maß­nah­me ist die Tren­nung der Ver­keh­re: Der Aus­bau der Rad- und Fuß­we­ge ist essen­zi­ell für die Verkehrssicherheit.

In den Nie­der­lan­den wur­de das Prin­zip der „feh­ler­ver­zei­hen­den Infra­struk­tur” ent­wi­ckelt: Es wird davon aus­ge­gan­gen, dass Men­schen Feh­ler machen, die zum Teil fatal sein kön­nen. Also ist es Auf­ga­be der Infra­struk­tur, die­se Feh­ler zu anti­zi­pie­ren und die Fol­gen von Kol­li­sio­nen zu mini­mie­ren. Ein Bei­spiel: Die frei­en Rechts­ab­bie­ger, also eine Rechts­ab­bie­ge­spur für Fahr­zeu­ge neben einer Ampel, sol­len das läs­ti­ge Abbie­gen flüs­si­ger, also schnel­ler machen. Der damit ver­bun­de­ne Geschwin­dig­keits­ge­winn ist aber nur vor­teil­haft für Kfz-Fah­ren­de – alle ande­ren müs­sen ihre Bedürf­nis­se zurück­stel­len, damit der Auto­ver­kehr fließt. Sicher­heit für alle Ver­kehrs­teil­neh­mer* innen ist bei die­ser Form der Infra­struk­tur nicht rele­vant – und sie ist tat­säch­lich auch ein Unfall­schwer­punkt. Feh­ler­ver­zei­hen­de Infra­struk­tur wür­de in die­sem Fall bedeu­ten, die Abbie­ge­ge­schwin­dig­keit zu redu­zie­ren (etwa durch Boden­schwel­len oder Ver­rin­ge­rung der Spur­brei­te), einen geschütz­ten Rad­weg anzu­le­gen oder vor­ge­zo­ge­ne Fuß­gän­ger­über­que­run­gen ein­zu­rich­ten, um die Sicht­be­zie­hun­gen zu opti­mie­ren. In den Nie­der­lan­den unter­stützt die Gesetz­ge­bung fol­gen­des Prin­zip: Kommt es zwi­schen Rad­fah­ren­den und Auto­fah­ren­den zu einer Kol­li­si­on, haf­ten in der Regel die stär­ke­ren Ver­kehrs­teil­neh­men­den – also die Per­so­nen im Fahr­zeug. Die Gefahr, die von einem Kraft­fahr­zeug aus­ge­hen kann, ist also im Vor­hin­ein ein­ge­preist und zwingt die Ver­kehrs­teil­neh­men­den zu mehr Rücksicht.

Gefah­ren­la­ge

In der deut­schen Stra­ßen­ver­kehrs­ord­nung (StVO) ist das Prin­zip der Gefah­ren­la­ge fest­ge­hal­ten (§ 45). Die­se muss nach­ge­wie­sen wer­den, bevor man den (Auto-) Ver­kehr ein­schrän­ken darf. Kon­kret bedeu­tet das, dass das Anle­gen eines Rad­we­ges oder einer Bus­spur nur dann zuläs­sig ist, wenn vor­ab Men­schen zu Scha­den gekom­men sind. Man woll­te mit der Gesetz­ge­bung die Leich­tig­keit und Flüs­sig­keit des Kfz-Ver­kehrs sichern – und die­sen nur in Aus­nah­me­fäl­len ein­schrän­ken. Trotz meh­re­rer StVO-Novel­len ist die Wirk­macht von § 45 immer noch enorm.

Der Para­graf ver­hin­dert, dass ver­kehrs­be­ru­hi­gen­de Maß­nah­men flä­chen­de­ckend ein­ge­führt wer­den – denn jede Maß­nah­me muss auf­wen­dig ein­zeln begrün­det wer­den. In ande­ren Län­dern ist es hin­ge­gen mög­lich, flä­chen­de­cken­de Zie­le für die Ver­kehrs­wen­de zu setzen:

Ams­ter­dam: Reduk­ti­on der Zahl der Anwoh­ner­park­aus­wei­se um 1500 pro Jahr (ins­ge­samt 11.200) bis 2025.

Paris ver­bie­tet Die­sel­au­tos ab 2026 und Ver­bren­ner ab 2030.

Bogo­tá: Um den Men­schen das Rad­fah­ren schmack­haft zu machen, sind die Sonn­ta­ge auto­frei. Die Ciclo­via, wie die auto­frei­en Stra­ßen genannt wer­den, gibt es seit 1974.

Bar­ce­lo­na plant 503 Super­blocks, Wohn­vier­tel ohne Durch­gangs­ver­kehr mit ver­bes­ser­ter Auf­ent­halts­qua­li­tät und mehr Grün.

Wien: Sen­kung des moto­ri­sier­ten Indi­vi­du­al­ver­kehrs im Bin­nen­ver­kehr auf 20 Pro­zent bis 2025, 15 Pro­zent bis 2030 und auf deut­lich unter 15 Pro­zent bis 2050.

Lon­don: Bis 2041 sol­len 80 Pro­zent der Fahr­ten mit nach­hal­ti­gen Ver­kehrs­mit­teln zurück­ge­legt werden.

Sol­che kla­ren Zie­le sind wegen des § 45 in Deutsch­land nicht mög­lich: Die Ein­zel­prü­fun­gen und mög­li­che Kla­gen ver­hin­dern Maß­nah­men, die auf eine Reduk­ti­on des Auto­ver­kehrs abzie­len. Das über­ge­ord­ne­te deut­sche Stra­ßen­ver­kehrs­ge­setz ist so kon­zi­piert, dass es den Sta­tus quo auf­recht­erhält. Kli­ma­zie­le, Gesund­heit und städ­te­bau­li­che Ent­wick­lung wer­den erst seit der letz­ten Novel­lie­rung vom August 2024 über­haupt erwähnt – fast zehn Jah­re nach dem Bekennt­nis zu den Pari­ser Klimazielen.

Neu den­ken

Die Trans­for­ma­ti­on zur nach­hal­ti­ge­ren Mobi­li­tät for­dert Out-of-the-Box-Den­ken. Mit alten Lösun­gen kön­nen wir nichts Neu­es schaf­fen. Hier sind ein paar Ansät­ze: In Paris wer­den die Schul­hö­fe zuneh­mend ent­sie­gelt und bepflanzt. So ent­steht neu­er, wert­vol­ler und vor allem öffent­li­cher Raum, denn die Schul­hö­fe wer­den für Bürger*innen nach Schul­schluss geöff­net. In dicht bebau­ten Städ­ten ist der öffent­li­che Raum immer knapp, weil ein Groß­teil den Kraft­fahr­zeu­gen zur Ver­fü­gung gestellt wird, und zwar bis zu 80 Pro­zent, aber öffent­li­cher Raum kann so viel mehr sein – wie es die Schul­hö­fe in Paris zei­gen. In Wien haben das im Jahr 2012 ein­ge­führ­te und preis­wer­te 365-Euro-Ticket und kon­se­quen­te Ver­bes­se­run­gen im ÖPNV-Ange­bot dazu geführt, dass es heu­te mehr Jahreskartenbesitzer*innen als ange­mel­de­te Autos gibt. Dör­fer und Vor­städ­te in Däne­mark bie­ten den Anwoh­nen­den kos­ten­lo­ses E‑Bike-Sha­ring als Über­gangs­lö­sung an, wenn die ÖPNV-Infra­struk­tur noch nicht aus­rei­chend aus­ge­baut ist. Für vie­le kür­ze­re Stre­cken – die 50 Pro­zent der zurück­ge­leg­ten Auto­we­ge, die unter fünf Kilo­me­ter lang sind – stellt ein E‑Bike eine gute Alter­na­ti­ve dar. In Kom­bi­na­ti­on mit dem ÖPNV kann es sogar ein Auto erset­zen. Das Zen­trum von Bor­deaux wur­de vor eini­gen Jah­ren auto­frei gestal­tet (der Lie­fer­ver­kehr ist zwi­schen 0 und 11 Uhr erlaubt). Neben Fuß- und Rad­ver­kehr fah­ren klei­ne, kos­ten­lo­se E‑Busse, die mit 15 Stun­den­ki­lo­me­tern Men­schen inner­halb des immer grö­ßer wer­den­den Gebie­tes lei­se und kos­ten­los trans­por­tie­ren. In den Nie­der­lan­den wur­de anläss­lich des rus­si­schen Angriffs­krie­ges auf die Ukrai­ne das Tem­po­li­mit auf Auto­bah­nen tags­über auf 100 Stun­den­ki­lo­me­ter begrenzt. Wäh­rend die Zustim­mung anfangs bei nied­ri­gen 46 Pro­zent lag, spre­chen sich zwei Jah­re nach der Ein­füh­rung 60 Pro­zent sogar für eine Reduk­ti­on auf Tem­po 90 aus. Was auf den ers­ten Blick unpo­pu­lär erscheint, über­zeugt erst beim Erpro­ben. Für ein rela­tiv kon­ser­va­ti­ves Land wie Deutsch­land wird Ver­hal­ten, das Gewohn­hei­ten hin­ter­fragt, oft laut ein­ge­for­dert und dann als mutig bezeich­net. Oft reicht aber ein sach­li­cher Blick über den Tel­ler­rand: Woan­ders wer­den schein­bar unpo­pu­lä­re Maß­nah­men nach­weis­lich als Ver­bes­se­run­gen wahr­ge­nom­men. Nicht Mut ist erfor­der­lich, son­dern nur die Bereit­schaft, evi­denz­ba­sier­te Erfah­run­gen anzuerkennen.

Das letz­te Geheim­nis der Verkehrsplanung

Es gibt noch ein wei­te­res Phä­no­men, das Auf­merk­sam­keit ver­dient: die soge­nann­te „traf­fic eva­po­ra­ti­on”, zu deutsch „Ver­kehrs­ver­puf­fung“. In Kajaa­ni in Finn­land wur­de die Haupt­stra­ße für den Kfz-Ver­kehr kom­plett geschlos­sen. Hier fuh­ren täg­lich etwa 13.000 Fahr­zeu­ge. Der Ver­kehr in den umlie­gen­den Stra­ßen wuchs dadurch von 1000 auf 6500 Fahr­zeu­ge pro Tag. Wo waren aber die übri­gen 6500 Kfz geblie­ben? 2019 wur­de in Lon­don eine für den Kfz-Ver­kehr sehr wich­ti­ge Brü­cke über die Them­se gesperrt, weil sie saniert wer­den muss­te. Mit Warn­ru­fen, die stadt­wei­te Staus vor­her­sa­hen, reagier­ten sowohl die Medi­en als auch Bürger*innen nahe­zu reflex­ar­tig. Über­ra­schen­der­wei­se redu­zier­te sich die Luft­ver­schmut­zung in den Stadt­quar­tie­ren, weil weit weni­ger Autos unter­wegs waren. 

Es ist eines der letz­ten Geheim­nis­se der Ver­kehrs­pla­nung: Ver­kehrs­be­ru­hi­gung oder Ver­kehrs­be­gren­zun­gen füh­ren tat­säch­lich zu weni­ger Kfz-Ver­kehr. Der Fakt, der welt­weit in unzäh­li­gen Stu­di­en nach­ge­wie­sen wur­de, hat es in der Debat­te jedoch so schwer, weil er kon­train­tui­tiv ist. Wir in Deutsch­land betrach­ten Ver­kehr, als wäre er Was­ser: Es fließt, wo es kann, wird jedoch nicht weni­ger durch Däm­me oder den Abfluss in die Kana­li­sa­ti­on. Aber Ver­kehr ist kein Was­ser – Ver­kehr ist die Fol­ge mensch­li­cher Ent­schei­dun­gen. Wenn wir irgend­wo aus­ge­bremst wer­den, dann suchen wir auf ande­rem Wege vor­an­zu­kom­men. Wir wech­seln sozu­sa­gen die Spur. Wir ver­su­chen uns anzu­pas­sen. Die­se mensch­li­che Fähig­keit wird oft nega­tiv bewer­tet: Wer sich anpasst, ist schwach. Hier lohnt sich ein Per­spek­ti­ven­wech­sel: Könn­ten unser Lern­ver­mö­gen, unser Anpas­sungs­ta­lent und die Fähig­keit, Feh­ler zu kor­ri­gie­ren, viel­mehr cle­ve­re Ant­wor­ten auf unvor­her­ge­se­he­ne Ereig­nis­se, also eine Über­le­bens­stra­te­gie sein?

Rag­nhild Sørensen

Ragnhild Sørensen ist beim Verein Changing Cities für die Pressearbeit verantwortlich. Dieser setzt sich für eine Verkehrswende von unten ein.