Der Klang der Katastrophenforschung

Das Ton­band­auf­nah­me­ge­rät in sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Explo­ra­tio­nen von Explo­sio­nen, Stür­men und Erdbeben

Tech­ni­sche Objek­te sind im Umgang mit Kata­stro­phen von größ­ter Bedeu­tung. Dies zei­gen Dei­che, Was­ser­fil­ter, oder Schutz­mas­ken. Auch in der wis­sen­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung sind sie wich­tig – und zwar nicht nur als For­schungs­ge­gen­stän­de, son­dern auch als Instru­men­te, mit denen geforscht wird. Die Geschich­te des Ton­band­auf­nah­me­ge­rä­tes in der sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Kata­stro­phen­for­schung des Kal­ten Krie­ges, um die es im Fol­gen­den geht, ver­an­schau­licht dies. Dabei gehen wir mit Wieb­ke Bijkers The­se zu Däm­men und Dei­chen davon aus, dass auch Ton­band­auf­nah­me­ge­rä­te als Kata­stro­phen­ob­jek­te “thick with power rela­ti­ons and poli­tics“1 – also von Macht­ver­hält­nis­sen und poli­ti­schen Inter­es­sen durch­zo­gen – sind. Sie sind folg­lich sozi­al kon­stru­iert. Gleich­zei­tig orga­ni­sier­ten sie in der Kata­stro­phen­for­schung auch sozia­le Bezie­hun­gen, lie­ßen sol­che ent­ste­hen und stör­ten sie, was sie zu einer äußerst ambi­va­len­ten Explo­ra­ti­ons­tech­no­lo­gie macht.

Explo­ra­ti­ons­tech­no­lo­gie

Wie For­schungs­schif­fe oder Mikro­sko­pe kön­nen auch Ton­band­ge­rä­te als Explo­ra­ti­ons­tech­no­lo­gien begrif­fen wer­den. Auch sie kamen in Pro­jek­ten zum Ein­satz, in denen sich ein moder­ner Wil­le zum Wis­sen mit Bestre­bun­gen und Prak­ti­ken der Aneig­nung, Beherr­schung und der Aus­beu­tung ver­band. So wur­den sie, bezie­hungs­wei­se ihre Vor­läu­fer die Pho­no­gra­fen, in kolo­nia­len Kon­tex­ten der Jahr­hun­dert­wen­de (19./20. Jahr­hun­dert), zu Instru­men­ten der Wis­sens­extrak­ti­on.2 Ton­band­ge­rä­te ste­hen somit auch in Bezie­hung zu asym­me­tri­schen Macht­ver­hält­nis­sen. Das gilt auch für die frü­he Kata­stro­phen­for­schung, die Ende der 40er Jah­re in den USA, von der Armee finan­ziert, insti­tu­tio­na­li­siert wur­de. Die mili­tä­ri­schen Spon­so­ren hoff­ten, dass die empi­ri­sche Erfor­schung mensch­li­chen Ver­hal­tens nach zivi­len Kata­stro­phen Erkennt­nis­se her­vor­brin­gen wür­de, die sich in der Pro­gno­se und Regu­lie­rung sol­chen Ver­hal­tens wäh­rend eines nuklea­ren Angriffs auf die USA ein­set­zen lie­ßen. Die ers­ten Kata­stro­phen­for­schungs­grup­pen ent­stan­den in den Jah­ren 1949, 1952 und 1963 an ver­schie­de­nen For­schungs­ein­rich­tun­gen. Die dort akti­ven Forscher*innen, von denen die meis­ten Soziolog*innen (und eini­ge Anthropolog*innen oder Psycholog*innen) waren, haben bis heu­te hun­der­te von soge­nann­ten rapid respon­se Feld­stu­di­en nach Erd­be­ben, Stür­men und Indus­trie­ex­plo­sio­nen inner­halb und außer­halb der USA durch­ge­führt. Dabei inter­view­ten sie tau­sen­de Über­le­ben­de, aber auch Mit­glie­der von Rettungsorganisationen.

Schwarzweißfoto: Drei Männer neben einem Auto mit Schild „Disaster Research Center“ in einer überfluteten Backsteinstraße. Industriegebäude im Hintergrund, Flutwasser bedeckt die Fahrbahn.
Kata­stro­phen­for­scher Bil­ly Ander­son mit Kol­le­gen vom DRC an einem ‚Ort des Gesche­hens‘. Ander­son trägt das Ton­band­ge­rät nur ver­meint­lich locker um die Schul­ter wie der fes­te Griff sei­ner Hand zeigt, mit dem er das nicht uner­heb­li­che Gewicht des Rekor­ders auf­zu­fan­gen ver­sucht. DRC Archiv, Foto: Vale­rie Marlowe

Die Ton­band­ge­rä­te, die für die Feld­for­schung genutzt wur­den, hoben sich von Vor­gän­ger­mo­del­len vor allem in Grö­ße und Auf­nah­me­tech­nik ab. Model­le wie das von der Fir­ma Sony her­ge­stell­te Sony-Matic TC-800B waren robust und klein genug um über­haupt erst in Kata­stro­phen­ge­bie­ten zum Ein­satz kom­men zu kön­nen. Auf­grund ihres den­noch erheb­li­chen Gewichts, konn­ten sie zu einer Belas­tung wer­den. Beson­ders jedoch dann, wenn Forscher*innen ihnen in der Vor­be­rei­tung und Refle­xi­on nicht aus­rei­chend Auf­merk­sam­keit schenk­ten. Außer­dem boten die neu­en Gerä­te Mög­lich­kei­ten der Wei­ter­lei­tung und der Mani­pu­la­ti­on, denn Auf­nah­men auf Band konn­ten nun geschnit­ten und neu zusam­men gesetzt wer­den. Beson­ders im Kon­text des Kal­ten Krie­ges wur­den der­ar­ti­ge Mani­pu­la­tio­nen gefürch­tet. Die­se Gemenge­la­ge hat­te Kon­se­quen­zen für die Wahr­neh­mung von Ton­band­ge­rä­ten als ver­trau­ens­wür­dig oder nicht, wor­um sich die Forscher*innen sorgten.

Kon­trol­le und Vertrauen(sverlust)

Das Ein­üben der kor­rek­ten Anwen­dung des Ton­band­ge­rä­tes war bereits in den frü­hen Tagen der US-ame­ri­ka­ni­schen Kata­stro­phen­for­schung zen­tra­ler Bestand­teil in der Vor­be­rei­tung auf die Feld­for­schung. Vor einem Inter­view sei bei­spiels­wei­se die Ent­fer­nung und das Dre­hen des Tapes zu Hau­se ein­zu­üben, so heißt es in dem Pro­to­koll eines Tref­fens der Soziolog*innen der Dis­as­ter Rese­arch Group des Natio­nal Opi­ni­on Rese­arch Cen­ter (NORC) der Uni­ver­si­tät Chi­ca­go im März 1951. Der Dok­to­rand John Baugh­man führ­te dem­ge­mäß aus, was gesche­hen konn­te, wenn man sich nicht hin­rei­chend mit der Tech­nik aus­kann­te. So pas­sier­te es Baugh­mann selbst, dass nach Ein­ste­cken Rauch und Qualm aus dem Gerät her­vor­quoll, wor­auf­hin der Inter­view­part­ner scherz­te: “Did you come to talk about a fire or to start one!”3 – Sind sie gekom­men, um über einen Brand zu spre­chen oder um einen zu legen.

Der Rekor­der war also nicht nur ein Hilfs­mit­tel in der Inter­ak­ti­on zwi­schen den Interviewpartner*innen, son­dern nahm als Aktant selbst Ein­fluss auf eben die Bezie­hung zwi­schen ihnen. Hier­zu sei zudem das Bei­spiel einer Situa­ti­on zwi­schen der For­sche­rin Jea­nette Ray­ner (hier ‚Q‘) und ihrem Inter­view­part­ner (hier ‚Jay‘) ange­führt, der auf­grund der Prä­senz des Ton­band­re­kor­ders Ver­dacht schöpf­te, sie sei mög­li­cher­wei­se kei­ne Wis­sen­schaft­le­rin son­dern ein inter­es­sen­ge­lei­te­ter Akteur der Ver­si­che­rung oder eines Unternehmens:

Jay: When I ente­red this room, was this recor­der on.

Q. Yes, of cour­se it was on.

Jay: Uh, did I uh, give per­mis­si­on to have the recor­der – or make state­ments to that effect?
Q. No uh, you didn’t but you came in after the ses­si­on was in…

Jay: Pro­gress…

Q. … in pro­gress, but I tur­ned it off imme­dia­te­ly as you requested.

Jay: Well, (pau­se) the only reason I asked you that, Jean­nette, is becau­se as I say, I repre­sent the­se peo­p­le in the respect that they asked me to […] this acci­dent we had. I feel that any recor­ding of any kind or uh…

[…]

Jay: Becau­se when I first saw the recor­der play­in’, I thought for sure you repre­sen­ted the com­pa­ny, the insu­rance com­pa­ny, […] my att­or­ney told me cases of – that made me ears stand up the way they do things…4

Sowohl das Bei­spiel von Baugh­manns unzu­rei­chen­der Vor­be­rei­tung, als auch Ray­ners Ver­säum­nis in der Kom­mu­ni­ka­ti­on zei­gen, dass man­geln­de Kon­trol­le über den Rekor­der neben einem Rol­len­wech­sel in der Inter­view­si­tua­ti­on auch zu Skep­sis und Ver­trau­ens­ver­lust gegen­über For­schen­den führ­te. So konn­ten Ton­band­ge­rä­te vom Hilfs­mit­tel zum Pro­blem wer­den. Die Bei­spie­le demons­trie­ren auch, wie die Macht­ver­hält­nis­se, die sich anhand von Objek­ten nach­voll­zie­hen las­sen, durch sie geschaf­fen, aber auch offen­ge­legt und poten­ti­ell gestört werden.

Ver­gan­gen­heits­ex­plo­ra­ti­on

Die Ton­band­auf­nah­men der Katastrophenforscher*innen doku­men­tier­ten nicht nur die Reak­tio­nen der Inter­view­ten auf die kurz zuvor erleb­te Kata­stro­phe, son­dern auch die Ver­wen­dung der Gerä­te sel­ber und die Kon­flik­te, die sich rund­um ihren Ein­satz ent­zün­den konn­ten. Damit kon­sti­tu­ie­ren sie eine zen­tra­le Quel­len­ba­sis für die geschichts­wis­sen­schaft­li­che Explo­ra­ti­on des Zusam­men­spiels aus Kata­stro­phen, Tech­nik und Wis­sen­schaft, die wie­der­um das Inter­es­se der Kata­stro­phen­for­schung selbst weck­te. Ende der 1980er Jah­re begann der wohl bekann­tes­te Kata­stro­phen­for­scher, Enri­co Qua­ran­tel­li (der bereits Teil der aller­ers­ten Kata­stro­phen­for­schungs­grup­pe am NORC gewe­sen war) damit, ande­re Pio­nie­re der Kata­stro­phen­for­schung zu inter­view­en und sie zur Ent­wick­lung ihres Fach­ge­bie­tes zu befra­gen. Die dabei ent­stan­de­nen Auf­nah­men hal­ten eine Pra­xis des gemein­sa­men Erin­nerns und Geschich­te­schrei­bens – oder, in die­sem Fall, Geschich­tespre­chens – fest. In die­ser Pra­xis führ­te der Rekor­der die betei­lig­ten Akteu­re zusam­men und die Pro­duk­ti­on von sozia­lem und nar­ra­ti­vem Mate­ri­al erlaub­te es den Insti­tu­tio­nen, sta­bi­li­sie­ren­de Bezie­hun­gen und Zukünf­te aufzubauen.

  1. Wieb­ke E. Bijker: Dikes and Dams, Thick with Poli­tics, in: ISIS Vol. 98 (2007), No. 1, S. 109–123, hier S. 115. ↩︎
  2. Hoff­mann, Anet­te 2020. Kolo­ni­al­ge­schich­te hören. Das Echo gewalt­sa­mer Wis­sens­pro­duk­ti­on in Ton­do­ku­men­ten aus dem süd­li­chen Afri­ka. Man­del­baum ↩︎
  3. DRC Archi­ve, Uni­ver­si­ty of Dela­ware, Newark/DE, His­to­ri­cal Coll­ec­tion, Box 2256. ↩︎
  4. “Phil­adel­phia Ray­ner-Inter­view”, Dis­as­ter Rese­arch Pro­ject, Uni­ver­si­ty of Mary­land. 1952. DRC Archi­ve, Uni­ver­si­ty of Dela­ware, Newark/DE, His­to­ri­cal Coll­ec­tion, Box 6039. 
    Übers. (eige­ne):
    Jay: Als ich den Raum betrat, war die­ser Rekor­der an. Q: Ja, natür­lich war er an. Jay: Ähm, Habe ich, ähm, Ihnen die Erlaub­nis gege­ben die­sen Rekor­der zu haben oder mich in die­se Rich­tung geäu­ßert? Q: Nein, ähm haben Sie nicht, aber als Sie rein­ka­men, war die Sit­zung bereits… Jay: Im Gan­ge… Q.: …im Gan­ge. Aber ich habe es aus­ge­schal­tet, als Sie mich dar­um baten. Jay: Also, (Pau­se) der ein­zi­ge Grund wes­halb ich Sie dar­um bat, Jea­nette, ist, wie ich sag­te, ich ver­tre­te die­se Leu­te hin­sicht­lich die­ses Unfalls den wir hat­ten. Ich habe den Ein­druck, dass Auf­nah­men jeg­li­cher Art—ähm… 
    […] Jay: Denn als ich bemerk­te, dass die­ser Rekor­der läuft, dach­te ich mit Sicher­heit, dass Sie das Unter­neh­men ver­tre­ten, […] Mein Anwalt hat mir von sol­chen Fäl­len berich­tet – die mich hell­hö­rig wer­den lie­ßen wie die­se Din­ge gehand­habt wer­den… ↩︎
Céci­le Stehrenberger

Cécile Stehrenberger ist Juniorprofessorin für Wissenschafts- und Technikgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal und erforscht die Geschichte der US-amerikanischen Katastrophenforschung.

Katha­ri­na Kalthoff

Katharina Kalthoff ist Postdoktorandin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts Slow Disasters in the Wasteocene am Interdisziplinären Zentrum für Wissenschafts- und Technikforschung der Bergischen Universität Wuppertal.

Kar­abo Makola

Mangakane Karabo Makola ist Promotionsstudentin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts Science in the Eye of the Storm an der Bergischen Universität Wuppertal.