Rad­fah­ren im König­reich Bayern

Rad­ak­ti­vis­ten in Bay­ern um 1900

Das Fahr­rad erlebt eine Renais­sance, auch und gera­de viel­leicht in Bay­ern. Um zum inten­dier­ten Zweck als Sport‑, Frei­zeit- und Trans­port­ge­rät genutzt zu wer­den, müs­sen sich Nutzer:innen aller­dings mit ande­ren Verkehrsteilnehmer:innen arran­gie­ren, der öffent­li­che Raum Stra­ße ist umkämpft. Dies war beim Auf­kom­men des ers­ten mas­sen­taug­li­chen Indi­vi­du­al­ver­kehrs­mit­tel vor über 100 Jah­ren nicht anders. Die­ser Bei­trag soll kurz die Tätig­kei­ten von Rad­ak­ti­vis­ten in Bay­ern um 1900 illus­trie­ren. Damals gab es noch kei­ne Ver­kehrs­schil­der, Füh­rer­schei­ne oder eine Stra­ßen­ver­kehrs­ord­nung und Ord­nung ent­wi­ckel­te sich oft erst anhand von Konflikten.

In Augs­burg muss­te das Ehe­paar Edmund und Maria Kam­mel 1888 eine Stra­fe bezah­len, weil sie auf einem damals neu­ar­ti­gen bezie­hungs­wei­se der hie­si­gen Poli­zei noch unbe­kann­ten zwei­sit­zi­gen Vier­rad in der für Fahr­rä­der fast durch­weg ver­bo­te­nen Stadt unter­wegs gewe­sen waren. Edmunds Ver­si­che­run­gen, er und sei­ne Frau sei­en erfah­re­ne Wan­der­fah­rer und das Gefährt sei voll­kom­men sicher und ver­kehrs­taug­lich, lie­ßen die Ord­nungs­be­hör­den nicht gel­ten, das Vier­rad müs­se erst unter­sucht wer­den. Nur nach einer Prü­fung des Vehi­kels, beson­ders der Brems­fä­hig­keit, ließ man bei­de wei­ter­hin die weni­gen erlaub­ten Stra­ßen befahren.

Der begeis­ter­te Rad­ler Edmund Kam­mel, wel­cher zusam­men mit sei­ner Frau Maria aus­ge­dehn­te Rei­sen unter­nahm, ver­fass­te 1892 ein Tou­ren­buch für Süd­deutsch­land. Tou­ren­bü­cher dien­ten als Hand­rei­chun­gen für beson­ders schö­ne Stre­cken, emp­feh­lens­wer­te Unter­künf­te, topo­gra­fi­sche Beschrei­bun­gen, Stra­ßen­pro­fi­le, Zoll­re­geln sowie Ver­hal­ten im Stra­ßen­ver­kehr und War­tung. Tou­ren­bü­cher geben damit Auf­schluss über Erfas­sung und Durch­drin­gung von Raum und Ver­brei­tung fahr­rad-rele­van­ten Wis­sens aus Sicht und Initia­ti­ve der Rad­ler selbst.

In Augs­burg wur­de auch 1895 die ers­te und größ­te deutsch­spra­chi­ge Frau­en­rad­zeit­schrift Drai­se­na von der Frau­en­recht­le­rin Min­na Wett­stein-Adelt gegrün­det. Die­se stand der Zeit­schrift meh­re­re Jah­re als Chef­re­dak­teu­rin vor. Das männ­lich gepräg­te Rad­fah­rer­mi­lieu wur­de so um eine weib­lich-eman­zi­pa­to­ri­sche Stim­me erwei­tert. Als Befür­wor­ter des Rad­fah­rens waren aber Män­ner am sicht­bars­ten. Zum Bei­spiel Rad­sport­ler wie Edmund Kam­mel oder Rupert Rit­ter von Paller.

Pal­ler war Inge­nieur sowie amt­li­cher Sach­ver­stän­di­ger für Fahr­rad- und Kraft­fahr­zeug­we­sen und Eisen­bah­nen; tätig unter ande­rem in Coven­try, Nürn­berg, Augs­burg. In Mün­chen arbei­te­te er als Betriebs­in­ge­nieur in der welt­weit ers­ten Motor­rad­fa­brik, Hil­de­brand & Wolf­mül­ler. Pal­ler schrieb nicht nur über die enor­men Pro­duk­ti­ons­zah­len baye­ri­scher Fahr­rad­fir­men, vor allem in Nürn­berg, son­dern er eru­ier­te auch mit hohem Auf­wand die Zahl der Radler:innen in Bay­ern. Vor dem Feh­len ein­heit­li­cher Erfas­sungs­stan­dards oder über­haupt einer lan­des­wei­ten Ver­kehrs­po­li­tik gab es dazu noch kei­ne amt­li­chen Sta­tis­ti­ken. Pal­ler schätz­te für Bay­ern im Jahr 1905, mit 6.500.000 Ein­woh­nern, die Zahl der Radfahrer:innen auf 180.000.

Exper­ten wie Pal­ler lie­fer­ten Know-How, ihre (auch selbst beton­te) Exper­ti­se soll­te als Gewähr für Kom­pe­tenz und Behand­lung von Fra­gen des als nütz­lich emp­fun­de­nen Fort­schritts die­nen. Hier­auf grif­fen die Ord­nungs­be­hör­den dank­bar zurück und es ent­wi­ckel­te sich eine frucht­ba­re Zusam­men­ar­beit mit den frü­hen Mobilitätsaktivist:innen. The­men waren bei­spiels­wei­se die Ver­bes­se­rung der Wege, Gesund­heit und Sicher­heit im Ver­kehr oder die Eta­blie­rung eines wirk­sa­men Kata­logs von Geset­zen zur Regu­lie­rung der sich um 1900 immer wei­ter aus­dif­fe­ren­zie­ren­den Mobi­li­täts­welt, in der Fußgänger:innen, Reiter:innen, Fuhr­wer­ke, Kut­schen, Vieh­her­den, Hun­de­fuhr­wer­ke, Stra­ßen­bah­nen, Rad- und Motorfahrer:innen sowie Las­ten­fahr­rä­der auf der Stra­ße kon­kur­rier­ten. Dabei beton­ten die Radaktivist:inen ihre gesam­mel­ten Erfah­rungs­wer­te und waren Behör­den beim Auf­zei­gen und Lösen von Pro­ble­men behilf­lich. Der neu­zeit­li­che Stra­ßen­ver­kehr soll­te so pro­ak­tiv mit­ge­stal­tet wer­den. Dar­aus folg­ten aber kei­ne offen arti­ku­lier­ten Ansprü­che auf Deu­tungs­ho­heit oder ein pos­tu­lier­ter Vor­rang des Rades auf der Stra­ße, son­dern es wur­den allg. Vor­tei­le eines gere­gel­ten Ver­kehrs und der Inte­gra­ti­on aller Teilnehmer:innen betont. Ins­be­son­de­re pro­fi­tier­te die frü­he Auto­mo­bil­nut­zung von den vor­an­ge­gan­ge­nen Akti­vi­tä­ten der Radfahrer:innen.

Eine Grup­pe war beson­ders rege tätig, der 1895 gegrün­de­te Ver­band zur Wah­rung der Inter­es­sen der bay. Rad­fah­rer, die maß­geb­li­che Orga­ni­sa­ti­on für die Ver­net­zung, Syn­chro­ni­sa­ti­on und Durch­set­zung der Inter­es­sen von Radler:innen im König­reich, spä­ter auch von Motorfahrer:innen. Unter­stüt­zung gab es von Mit­glie­dern des wit­tels­bachi­schen Königs­haus. So för­der­ten die Her­zö­ge Lud­wig Fer­di­nand und Alfons den Ver­band gezielt. Das Wohl­wol­len hoher Per­sön­lich­kei­ten dien­te dabei zur Legi­ti­ma­ti­on und Sicht­bar­ma­chung der eige­nen Agenda.

Der Vor­sit­zen­de des Ver­ban­des, Her­mann Frei­herr von Roten­han (1836–1914), war Oberst der baye­ri­schen Armee, aus­ge­zeich­ne­ter Kriegs­ve­te­ran, baye­ri­scher Käm­me­rer und per­sön­li­cher Adju­tant Her­zog Karl Theo­dors von Bayern.

Erst mit 59 Jah­ren ent­wi­ckel­te sich Roten­han zur Leit­fi­gur des Rad­fahr­ak­ti­vis­mus im König­reich. Er koor­di­nier­te die ein­zel­nen Ver­bands­sek­tio­nen, war Chef­re­dak­teur des Ver­bands­or­gan Blät­tern für Rad- u. Motor­fah­rer und gab pro­gram­ma­ti­sche Schrif­ten zu Rad­fah­r­er­recht, zur Ent­wick­lung und Ver­bes­se­rung des Stra­ßen­bau­we­sens sowie einen Stra­ßen­ka­ta­log Bay­erns heraus.

Das Geden­ken an „Vater Roten­han“1 pfleg­te man auch noch 14 Jah­re nach des­sen Tod. Anläss­lich einer Denk­mals­ein­wei­hung 1928 mar­schier­te der Ver­band einer Pro­zes­si­on gleich, „mit der Ver­bands­stan­dar­te an der Spit­ze, den Münch­ner Berg hin­auf zum Fuße des Denk­mals, das am Ende des ers­ten Rad­fahr­we­ges Mün­chen-Gau­ting, genannt Roten­han-Rad­weg, errich­tet wur­de. Auf dem Höhen­rü­cken bei Gau­ting am Ort sei­ner ers­ten Tat, blickt nun die Büs­te des Vaters im Rad­sport weit hin­aus in die Aera, die von Baron Roten­han selbst eröff­net wur­de.“2

Auf Abbil­dung 2 ist die Fest­ge­sell­schaft vor der geschmück­ten Büs­te zu sehen. Der genann­te und von Roten­han und dem Ver­band maß­geb­lich vor­an­ge­trie­be­ne Rad­weg wur­de bereits 1897 errich­tet und ist mut­maß­lich der ers­te in Bay­ern über­haupt. Heu­te erin­nert nicht mehr viel an die damals evo­zier­te Sakra­li­tät des „Wei­he­ak­tes“3. Das Denk­mal steht heu­te noch an der Orts­aus­fahrts­stra­ße Gau­ting-Mün­chen, neben den gemeind­li­chen Alt­glas­con­tai­nern. Der Rad­weg exis­tiert nicht mehr. Dies steht auch sinn­bild­lich für den heu­te fast unbe­kann­ten Her­mann von Roten­han und den frü­hen Rad­ak­ti­vis­mus in Bayern.

  1. Fest­schrift zur Erin­ne­rung an die Denk­mals-Ent­hül­lung des Frei­herrn Her­mann von Roten­han, Ehren­prä­si­dent des Baye­ri­schen Rad­fah­rer-Ver­ban­des. Sitz Mün­chen (E. V.) Mün­chen-Gau­ting 9. Sep­tem­ber 1928, Augs­burg 1928, S. 1, lin­ke Spal­te. ↩︎
  2. Fest­schrift, S. 1 rech­te Spal­te. ↩︎
  3. Ebd. ↩︎
Eli­as Blüml

Elias Blüml ist Kultur- und Technikhistoriker und spezialisiert auf bayerische Fahrradgeschichte. Er ist Promovend an der Uni Augsburg und als Lehrbeauftragter in Augsburg und Erlangen tätig.