100 Jah­re Pri­vat­dru­cke & Kalender

Typo­gra­fi­sche Rari­tä­ten der H. Bert­hold AG

Ein gro­ßer Teil der im Rah­men unse­res Koope­ra­ti­ons­pro­jekts “Die Sicht­bar­ma­chung des Sicht­ba­ren – Ber­lins typo­gra­fi­sches Kul­tur­er­be im Open Access” digi­ta­li­sier­ten Schrift­mus­ter wur­de in Haus­dru­cke­rei­en von Schrift­gie­ße­rei­en her­ge­stellt. Neben der H. Bert­hold AG besa­ßen zahl­rei­che wei­te­re Schrift­gie­ße­rei­en, aber auch nahe­zu jede grö­ße­re Behör­de und Ver­wal­tung, eige­ne Dru­cke­rei­en. Zu den von der H. Bert­hold AG her­aus­ge­ge­be­nen Druck­wer­ken gehö­ren auch Kalen­der und die soge­nann­ten Bert­hold-Pri­vat­dru­cke, wel­che nicht öffent­lich und in gerin­gen Auf­la­gen von cir­ca 500 Stück erschie­nen. Sie wur­den als Jah­res­ga­ben an Mit­glie­der von Buch­ge­sell­schaf­ten ver­sen­det oder dien­ten der Kun­den­bin­dung. Gleich­zei­tig waren sie Schrift­mus­ter und Wer­bung für jeweils neue Schriften.

Eini­ge der Bert­hold-Pri­vat­dru­cke wid­me­ten sich his­to­ri­schen The­men und waren damit zugleich Bei­trä­ge zur Geschich­te des deut­schen Schrift­gie­ße­rei­ge­wer­bes. Die­se Art von Pri­vat­dru­cken war in den Schrift­gie­ße­rei­en die­ser Zeit weit ver­brei­tet. Zu erwäh­nen sind hier beson­ders Druck­wer­ke von Genzsch & Heyse in Ham­burg, der D. Stem­pel AG in Frank­furt am Main und Wil­helm Woell­mer in Ber­lin. Für die Zeit der 1920er Jah­re war die Rei­he der H. Bert­hold AG auf­grund ihres The­men­spek­trums jedoch ver­mut­lich ein­zig­ar­tig und ist am bes­ten ver­gleich­bar mit der Tra­ja­nus-Pres­se, die bei der D. Stem­pel AG in den 1950er Jah­ren entstand.

Oscar Jol­les und die Berthold-Privatdrucke

Die ers­ten drei Bert­hold-Pri­vat­dru­cke erschie­nen im Jahr 1923 und damit vor 100 Jah­ren. Bis zum Tod von Oscar Jol­les (1860–1929), Direk­tor der H. Bert­hold AG von 1904–1929, gab es 21 Bän­de. Oscar Jol­les war seit 1924 Mit­glied sowie anschlie­ßend mehr­jäh­ri­ger stell­ver­tre­ten­der Vor­sit­zen­der der Maxi­mi­li­an-Gesell­schaft und gehör­te sowohl zu den Grün­dungs­mit­glie­dern der Son­ci­no Gesell­schaft der Freun­de des jüdi­schen Buches e.V. als auch des Ber­li­ner Biblio­phi­len-Abend e.V.

Die Bert­hold-Rei­he trug die Unter­ti­tel „Zur Geschich­te und Tech­nik des Buch­dru­ckes“ sowie „Zur Lite­ra­tur, Kunst und Wis­sen­schaft“. Bei­des erin­nert an Ver­öf­fent­li­chun­gen der Buch­kunst-Bewe­gung in Eng­land um die Jahr­hun­dert­wen­de vom 19. zum 20. Jahr­hun­dert. Nach 1929 ist kein wei­te­rer Band bekannt. Oscar Jol­les Sohn Heinz, spä­ter Hen­ry Jol­les (1902–1965)1, stif­te­te 1930 eine Publi­ka­ti­on für den Ber­li­ner Biblio­phi­len-Abend e.V. „im Geden­ken an die Tra­di­ti­on sei­nes Vaters“ (H. Wer­le, 2019). In die­ser Publi­ka­ti­on von 2019 wird auch erwähnt, dass 1932 noch ein zusätz­li­cher Pri­vat­druck anläss­lich des Goe­the-Jah­res mit dem Titel „Rei­ne­cke Fuchs“ erschie­nen sein könnte.

Die Haus­dru­cke­rei der H. Bert­hold AG in Berlin

1895 eröff­ne­te die H. Bert­hold AG eine eige­ne Dru­cke­rei in ihrem Haupt­ge­bäu­de in der Bel­le-Alli­ance-Stra­ße 88 (heu­te: Meh­ring­damm 43). Der ers­te Lei­ter der Haus­dru­cke­rei war Her­mann Hoff­mann, der eini­ge der bekann­tes­ten Bert­hold-Schrif­ten ent­warf wie die „Block“ und die „Rekla­me­schrift Herold“. In der Haus­dru­cke­rei wur­den neben Schrift­pro­ben, Akzi­den­zen, Druck­mus­tern, Mus­ter­aus­stat­tun­gen, Falt­blät­tern, Kalen­dern und Son­der­dru­cken unter ande­rem auch Nach­dru­cke wie zum Bei­spiel 1920 die Erin­ne­run­gen von Fer­di­nand Theinhardt her­ge­stellt.2 In Wer­be­an­zei­gen für Bert­hold-Dru­cke wird auch ein Stand­ort in der Gnei­sen­au­stra­ße 27 in Ber­lin als „Schrift­gie­ße­rei H. Bert­hold, Abt. Pri­vat­dru­cke“ bezeich­net. Dabei han­del­te es sich um die ehe­ma­li­ge Fabrik der Schrift­gie­ße­rei Emil Gursch, die 1918 von der H. Bert­hold AG über­nom­men wur­de und des­sen ehe­ma­li­ger Lei­ter Erwin Grau­mann bei der H. Bert­hold AG beschäf­tigt blieb. Mög­li­cher­wei­se wur­de die ehe­ma­li­ge Gursch-Haus­dru­cke­rei für die Rea­li­sie­rung der Bert­hold-Pri­vat­dru­cke umgenutzt.

Bert­hold-Pri­vat­druck Nr. 3 (1923)

Von den 21 Bän­den der Bert­hold-Pri­vat­dru­cke sind in der Biblio­thek des Deut­schen Tech­nik­mu­se­ums in Ber­lin aktu­ell 12 Bän­de ver­zeich­net, die direkt aus der H. Bert­hold AG stam­men. Die Num­mern der Aus­ga­ben sind, ergänzt um die Bert­hold-Signa­tur in […]:

1 [1923; Bert­hold 0680], 9 [1924; Bert­hold 0439], 10 [1924; Bert­hold 0281], 11 [1925; Bert­hold 0290], 12 [1925; Bert­hold 0291], 13 [1925; Bert­hold 0302],15 [1926; Bert­hold 0527], 17 [1926; Bert­hold 0198],18 [1926; Bert­hold 0288; Bert­hold 0289],19 [1927; Bert­hold 0285], 20 [1928; ohne Bert­hold-Signa­tur], 21 [1928; Bert­hold 0287].

Von beson­de­rer Bedeu­tung für das Ver­ständ­nis des Schrift­gie­ße­rei­we­sens ist der Bert­hold-Druck Nr. 3 Die deut­sche Schrift­gie­ße­rei: Eine gewerb­li­che Biblio­gra­phie. Das Buch wur­de von Oscar Jol­les her­aus­ge­ge­ben, unter Mit­wir­kung von Fried­rich Bau­er, Gus­tav Mori und Hein­rich Schwarz, bear­bei­tet von Dr. Lothar Frei­herr von Bie­der­mann. Es ist in einem fes­ten Ein­band der Buch­bin­de­rei E. A. Anders aus Leip­zig gebun­den (16,7 × 23,8 cm; 288 Sei­ten). Die ver­schie­de­nen Kapi­tel ent­hal­ten Auf­lis­tun­gen his­to­ri­scher Tex­te zum natio­na­len Schrift­gie­ße­rei­ge­wer­be sowie Ver­öf­fent­li­chun­gen zu ver­schie­de­nen tech­ni­schen und wirt­schaft­li­chen The­men. Fast 100 Sei­ten betref­fen eine Schrift­pro­ben-Biblio­gra­fie, die eine beson­ders wert­vol­le Quel­le sind. Trotz des Erschei­nungs­da­tums von vor 100 Jah­ren ist das Buch bis heu­te die bedeu­tends­te Biblio­gra­fie deut­scher Schrift­pro­ben. Auch wenn eine Aktua­li­sie­rung drin­gend erfor­der­lich wäre, ver­wei­sen meh­re­re Biblio­the­ken zu Recht auf die­ses Buch von Oscar Jol­les, um die Exem­pla­re aus ihren Samm­lun­gen zu katalogisieren.

Die Innen­sei­ten des Bert­hold-Pri­vat­drucks Nr. 3 wur­den in Hel­ler­au von Jakob Heg­ner (1882–1962) gedruckt. Dabei ist das größ­te Gestal­tungs­merk­mal die Schrift, die mit „ech­ten alten Wal­baum-Schrif­ten“ von Jus­tus Erich Wal­baum (1768–1837) gesetzt wur­de. Der Leip­zi­ger Ver­lag F. A. Brock­haus hat­te Wal­baums Schrift­gie­ße­rei 1836 über­nom­men. 1918 ver­äu­ßer­te der Ver­lag die Schrift­gie­ße­rei wie­der­um an die H. Bert­hold AG. Seit Beginn des 20. Jahr­hun­derts bemüh­te sich die Brockhaus’sche Schrift­gie­ße­rei dar­um, die Wal­baum-Schrif­ten wie­der in Umlauf zu brin­gen. Der Durch­bruch für die Schrift(typen) – im Gewer­be spricht man in sol­chen Fäl­len von „Revi­vals“ – gelang erst, nach­dem die his­to­ri­schen Schrif­ten bei Bert­hold auf­ge­nom­men wor­den waren. Seit­dem wur­de die „Wal­baum-Anti­qua“ wie­der zu einer ver­brei­te­ten Schrift für Fließ­tex­te, vor allem im deutsch­spra­chi­gen Raum.

Umschlag und Buch­rü­cken, Bert­hold Pri­vat­druck Nr. 3. SDTB/ His­to­ri­sches Archiv
Titel­sei­te, Bert­hold Pri­vat­druck Nr. 3. SDTB/ His­to­ri­sches Archiv

Kalen­der 1922 – 1933

Zu den in der Bert­hold-Haus­dru­cke­rei her­ge­stell­ten Druck­sa­chen gehör­ten auch Kalen­der. Auf­grund des Cha­rak­ters als Ver­brauchs­ge­gen­stand und der dafür ver­wen­de­ten sehr dün­nen Papie­re sind heu­te noch vor­han­de­ne Kalen­der aus der Zeit vor 1933 etwas sehr Besonderes.

Min­des­tens zwei der Bert­hold-Kalen­der wur­den von Her­bert Bay­er (1900–1985) gestal­tet. Von den sechs im Nach­lass von Bernd Möl­len­städt erhal­te­nen Kalen­dern aus der Bert­hold-Biblio­thek kann der Kalen­der von 1932 sicher Bay­er zuge­ord­net wer­den. Ein Kalen­der von 1934 ist nach­weis­bar unter https://​www​.moma​.org/​c​o​l​l​e​c​t​i​o​n​/​w​o​r​k​s​/​7​503. In einer Bio­gra­phie von Fio­na Mac­Car­thy über Wal­ter Gro­pi­us wird zudem erwähnt, dass Her­bert Bay­er im Jahr 1934 ver­such­te, Ise Gro­pi­us für die Gestal­tung eines wei­te­ren Kalen­ders für die H. Bert­hold AG zu gewin­nen. Da die­se Infor­ma­ti­on aus einem Brief von Ise Gro­pi­us an Wal­ter Gro­pi­us aus dem Mai 1934 stammt, ist davon aus­zu­ge­hen, dass es den Kalen­der für 1935 betraf, da der 1934er Kalen­der zu die­sem Zeit­punkt schon fer­tig­ge­stellt gewe­sen sein müsste.

Bei den sechs Kalen­dern aus dem Nach­lass von Bernd Möl­len­städt ent­hält der Ein­trag in […] jeweils die Signa­tur der Berthold-Bibliothek.

Deck­blatt eines Kalen­ders von 1928 [Bert­hold IV G‑6]. SDTB/ His­to­ri­sches Archiv
Kalen­der­frag­ment, o. J. SDTB/ His­to­ri­sches Archiv, I.4.327–325
Kalen­der­frag­ment. o. J. [IV G‑14]. SDTB/ His­to­ri­sches Archiv, I.4.327–326
Kalen­der von 1932 [IV G‑15], Gestal­tung: Her­bert Bay­er. SDTB/ His­to­ri­sches Archiv, I.4.327–327
Kalen­der von 1931. SDTB/ His­to­ri­sches Archiv, I.4.327–328
Handschriftliches Dokument der H. Berthold AG von 1924 mit Unterschriften und kunstvoller Kalligrafie, vermutlich eine Widmung oder Bestätigung, verfasst in deutscher Sprache.

Ver­zeich­nung eines Schrift­gut-Bestan­des von 230 Aktenordnern

Aktu­ell wird im His­to­ri­schen Archiv des Deut­schen Tech­nik­mu­se­ums ein cir­ca 230 Akten­ord­ner umfas­sen­der Schrift­gut-Bestand der Fir­ma Bert­hold ver­zeich­net. Dar­un­ter befin­den sich neben Pro­to­kol­len aus der Abtei­lung Schrift­trä­ger­fer­ti­gung auch 54 Ord­ner aus der Schrift­schnei­de­rei. Die­se stam­men aus der Zeit von 1920 bis cir­ca 1975 und beinhal­ten über­wie­gend hand­schrift­lich kor­ri­gier­te Pro­be­an­dru­cke ein­zel­ner Let­tern, wel­che bei der Her­stel­lung der „Hard­ware“ einer Schrift ent­stan­den sind. Die­se Pro­be­an­dru­cke wur­den von den Mit­ar­bei­tern im Pro­duk­ti­ons­pro­zess nach Umset­zung der Kor­rek­tu­ren der Schrift­ge­stal­ter immer wie­der neu ange­fer­tigt und ent­hal­ten zum Teil das Datum des Drucks sowie den Gie­ßer der Let­tern. Die­se Unter­la­gen ste­hen nach Abschluss der Ver­zeich­nung und tech­ni­schen Bear­bei­tung Ende 2023 der For­schung zur Verfügung.


Die­ser Bei­trag wur­de erst­ver­öf­fent­licht im Blog der Staats­bi­blio­thek zu Ber­lin.

  1. Heinz Jol­les, spä­ter Hen­ry Jol­les, war 1925 Solo-Pia­nist der Ber­li­ner Phil­har­mo­ni­ker und spä­ter Lei­ter der Kla­vier­klas­se Klind­worth-Schar­wen­ka-Kon­ser­va­to­ri­um in Ber­lin. Nach sei­nem Umzug nach Köln ver­lor er 1933 dort alle Ämter und sei­ne Stel­le als Pro­fes­sor an der Musik­hoch­schu­le und emi­grier­te nach Paris. Da Ger­trud und Mari­na Jol­les, Ehe­frau und Toch­ter von Oscar Jol­les, Mari­na eben­falls Musi­ke­rin, 1943 in The­re­si­en­stadt zu Tode kamen, über­leb­te Heinz Jol­les, als ein­zi­ger der Fami­lie in Bra­si­li­en, wohin ihm und sei­ner Frau 1940 die Flucht gelang. Auch der Bru­der von Oscar Jol­les und des­sen Ehe­frau, Sta­nis­laus und Ade­le Jol­les, hat­ten eine enge Ver­bin­dung zu Ber­lin. Sta­nis­laus Jol­les war Mathe­ma­tik­pro­fes­sor, Dekan und seit 1927 Ehren­bür­ger der Tech­ni­schen Hoch­schu­le zu Ber­lin sowie Mit­glied der Deut­schen Aka­de­mien der Natur­for­scher Leo­pol­di­na. Ade­le Jol­les, geb. Ehren­saal, kam1943 in The­re­si­en­stadt zu Tode. ↩︎
  2. Die ers­te Aus­ga­be von Erin­ne­rungs­blät­ter aus mei­nem Leben ließ Fer­di­nand Theinhardt (1820–1906) als Geschenk für sei­ne Freun­de bei Gebr. Unger in Ber­lin dru­cken. ↩︎
Fiona MacCarthy, Walter Gropius: Visionary founder of the Bauhaus. Faber & Faber, London 2019.
Hermann Werle, Oscar Jolles. Zur Erinnerung an einen Buchliebhaber, Förderer der Gutenberg’schen Kunst und hebräischer Lettern, Arbeitskreis Berthold AG, Berlin, 2019.
Dan Rey­nolds

Dan Reynolds arbeitet am Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien, Abt. Buchwissenschaft der JGU Mainz.

Kers­tin Wallbach

Kerstin Wallbach arbeitet im Deutschen Technikmuseum in der Abteilung Sammlung und Ausstellungen sowie im Bereich Finanzen.

Mar­cel Ruhl

Marcel Ruhl ist Archivar im Historischen Archiv des Deutschen Technikmuseums. Er ist für die Verzeichnung der Unternehmensarchive und fachliche Auskünfte zuständig.