Schrift­ge­stal­tung in der Longue Durée

Neue Zugän­ge zur Samm­lung der H. Bert­hold AG

Den Schrift­guss, die Her­stel­lung von Schrift­ma­te­ri­al aus Let­tern­blei, wird es auf­grund sei­ner Kom­ple­xi­tät und einer nur noch sehr redu­zier­ten Nach­fra­ge in Zukunft in der Pra­xis immer sel­te­ner geben. In die­sem Zusam­men­hang möch­ten wir an die­ser Stel­le beson­ders auf die in letz­ter Zeit erschie­ne­nen Inter­view-Fil­me und Arti­kel über den Schrift­gie­ßer Rai­ner Ges­ten­berg aus Darm­stadt hinweisen.

Für die Ziel­grup­pe jun­ger Men­schen, die sich im Rah­men ver­schie­de­ner Aus­bil­dun­gen und Stu­di­en­gän­ge mit Schrift und Medi­en beschäf­ti­gen, gilt es – neben bei­spiels­wei­se auch Berufs­grup­pen in den Berei­chen Bestands­er­hal­tung des schrift­li­chen Kul­tur­guts oder im Bereich Mar­ken­recht – wei­ter­hin, mög­lichst vie­le grund­le­gen­de Infor­ma­tio­nen über die Her­stel­lung von Schrift für die Zukunft zu sichern und zugäng­lich zu machen. Die Matri­zen­samm­lung der H. Bert­hold AG, die 1993 als Schen­kung in das Deut­sche Tech­nik­mu­se­um gelang­te, ist in die­sem Zusam­men­hang ein wich­ti­ger Bestand, für des­sen Erschlie­ßung das Koope­ra­ti­ons­pro­jekt “Die Sicht­bar­ma­chung des Sicht­ba­ren – Ber­lins typo­gra­fi­sches Kul­tur­er­be im Open Access” zur Digi­ta­li­sie­rung Ber­li­ner Schrift­pro­ben das Fun­da­ment legt.

Die ers­ten schrift­lich doku­men­tier­ten Kon­tak­te zwi­schen dem Deut­schen Tech­nik­mu­se­um, damals noch Muse­um für Ver­kehr und Tech­nik, und der Ber­li­ner Schrift­gie­ße­rei H. Bert­hold AG gehen noch auf die Zeit vor der Grün­dung des Muse­ums in das Jahr 1982 zurück. Sie stan­den in Zusam­men­hang mit dem 125-jäh­ri­gen Fir­men­ju­bi­lä­um der damals noch exis­tie­ren­den Fir­ma am 1. Juli des Fol­ge­jahrs. Der Grün­dungs­di­rek­tor des Deut­schen Tech­nik­mu­se­ums Gün­ter Gott­mann erwähn­te in einem Brief an ein Vor­stands­mit­glied der Fir­ma vom 18.2.1982 den „Schatz­kel­ler“, den ein Mit­ar­bei­ter des Muse­ums vor kur­zem besich­tigt und den die H. Bert­hold AG, beson­ders ein Herr Blei­cke, über „schwie­ri­ge Jah­re geret­tet“ habe. Das beson­de­re Inter­es­se des Muse­ums an die­sen Bestän­den begrün­de­te Gott­mann in dem genann­ten Brief einer­seits mit der „Not­wen­dig­keit des Erhalts und der Doku­men­ta­ti­on der Geschich­te bedeu­ten­der Ber­li­ner Betrie­be“, sowie ande­rer­seits mit der Bedeu­tung des Schrift­gus­ses als „eine wich­ti­ge Stu­fe in der his­to­ri­schen Dar­stel­lung der Schrift bis zum heu­te sich her­aus­schä­len­den Foto­satz“, wobei es damals bereits ers­te Com­pu­ter gab. Für die im Jahr 1983 eröff­ne­te Dau­er­aus­stel­lung zur Schrift- und Druck­tech­nik erhielt das Muse­um ver­schie­de­ne Objek­te der „tech­ni­schen Aus­stat­tung und Erzeug­nis­se der Fa. Her­mann Bert­hold Schrift­gie­ße­rei und Mes­sing­li­ni­en­fa­brik gegr. 1. Juli 1858“ als Schen­kung, die sich auch heu­te noch in der über­ar­bei­te­ten Dau­er­aus­stel­lung befin­den, wenn auch nicht, wie damals geplant, vor­führ­fä­hig. Die seit­dem hin­zu­ge­kom­me­nen und bis heu­te immer wie­der ergänz­ten Bestän­de der H. Bert­hold AG in Archiv, Biblio­thek und Objekt­samm­lun­gen des Deut­schen Tech­nik­mu­se­ums wur­den bereits mehr­fach the­ma­ti­siert. Im Mit­tel­punkt des vor­lie­gen­den Bei­trags steht dage­gen die in einem Außen­de­pot des Muse­ums vor­han­de­ne Samm­lung an Matri­zen mit den dazu­ge­hö­ri­gen Zurich­tun­gen und Gießzetteln.

Druckerzeug­nis­se und Schrift­mus­ter wur­den mit Let­tern gedruckt. Für ihre Her­stel­lung benö­tig­te man Matri­zen, auch Mate­rn genannt, als Guss­for­men. Sie sind damit so etwas wie das „Herz“ des gesam­ten Blei­satz-Sys­tems. His­to­risch betrach­tet waren auch die Rech­te an einer Schrift lan­ge Zeit an den mate­ri­el­len Besitz der Schrif­ten gebun­den, also an Patri­zen und Matri­zen als eine Art „Lizenz zum Dru­cken“. In die­sem Zusam­men­hang emp­feh­len wir einen eng­lisch­spra­chi­gen Bei­trag über einen wich­ti­gen Bestand an Patri­zen, die über die Schrift­gie­ße­rei Decker sowie die Reichs- und die Bun­des­dru­cke­rei ins Deut­sche Tech­nik­mu­se­um gelangten.

Die Her­stel­lung von Schrif­ten erfolg­te ähn­lich wie heu­te inner­halb eines Span­nungs­felds zwi­schen Ent­wick­lung, Urhe­ber­schaft, Lizenz- und Ver­triebs­sys­te­men auf der Basis wirt­schaft­li­cher Inter­es­sen. Gro­ße Schrift­gie­ße­rei­en wie die H. Bert­hold AG besa­ßen eige­ne Werbe‑, Patent- und Rechts­ab­tei­lun­gen. Auch damals wur­de gro­ßen tech­no­lo­gi­schen Umbrü­chen aus ver­schie­de­nen Grün­den oft nur retro­spek­tiv und nicht vor­aus­schau­end begeg­net. Es gab lan­ge Pha­sen par­al­lel ver­lau­fen­der Nut­zun­gen ver­schie­de­ner Druck­tech­ni­ken, begrün­det unter ande­rem durch die not­wen­di­ge und recht­lich defi­nier­te Auf­recht­erhal­tung von Ser­vice­an­ge­bo­ten und Rou­ti­nen für den Alt-Kun­den­be­stand, spe­zia­li­sier­ten Anwen­dungs­be­rei­chen, hohen Inves­ti­ti­ons­kos­ten, regio­na­len Beson­der­hei­ten, Res­sour­cen­knapp­heit, ahis­to­risch ver­lau­fen­den Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­sen und bei­spiels­wei­se als Fol­ge von Krie­gen oder – spe­zi­ell in Ber­lin – der deut­schen Tei­lung. Eng ver­bun­den damit wie­der­um waren das Schick­sal und die Inter­es­sen vie­ler Beschäf­tig­ter in die­sen Berei­chen, die sich, teil­wei­se mehr­fach, im Rah­men ihrer Erwerbs­bio­gra­fien voll­stän­dig neu­ori­en­tie­ren muss­ten.
Eine wich­ti­ge Fra­ge­stel­lung im Zusam­men­hang mit gegos­se­nen, nicht nur am Bild­schirm aus­ge­wähl­ten Schrift­ar­ten und Font­grö­ßen könn­te sein: Wie ver­lief die prak­ti­sche Zusam­men­ar­beit zwi­schen Schriftgestalter:innen, die in den 1960er Jah­ren noch Schriftkünstler:innen genannt wur­den, und den ver­ant­wort­li­chen Per­so­nen in den Fir­men­lei­tun­gen und in den Berei­chen Pro­duk­ti­on, Ver­trieb und Werbung.

Von Man­fred Weber, der am 1. April 1960 sei­ne Aus­bil­dung als Schrift­gie­ßer bei der H. Bert­hold AG begann und dort bis 30. Sep­tem­ber 1967 tätig war, wis­sen wir, dass zu sei­ner Zeit in den Fir­men­be­rei­chen, die mit der Pro­duk­ti­on für den Blei­satz zu tun hat­ten wie Schrift­guss, Schrift­tei­lung, Schlos­se­rei, Zurich­tung, Mes­sing, Gal­va­nik und Schrift­schnei­de­rei etwa 100 Per­so­nen arbei­te­ten. Die Zusam­men­ar­beit zwi­schen Schrift­gie­ßer und Schriftkünstler:innen schil­dert Man­fred Weber im Jahr 2018 wie folgt:

„Vor der Tätig­keit des Schrift­gie­ßers gab es ver­schie­de­ne vor­ge­schal­te­te Pro­zes­se in den Berei­chen Schrif­t­ent­wurf und Schrift­schnitt. Die Schrift­künst­ler arbei­te­ten in der Nähe der Schrift­schnei­der. Sie arbei­te­ten im Prin­zip Hand in Hand. Was der Schrift­künst­ler vor­gab, der Ent­wurf, wur­de spä­ter zuerst durch die Schrift­schnei­der umge­setzt. In der Gal­va­ni­sa­ti­on wur­den dann ers­te Matri­zen als Gieß­for­men für die zu gie­ßen­de Schrift her­ge­stellt. Erst danach ging es wei­ter zu den Schrift­gie­ßern an die Gieß­ma­schi­ne, wo zunächst Pro­ben gegos­sen wur­den. Der Schrift­gie­ßer ent­schied sich für eine bestimm­te Lauf­wei­te der Buch­sta­ben unter­ein­an­der und für jeden Buch­sta­ben ein­zeln. Der Schrift­künst­ler hat das dann noch­mal für gut befun­den oder nicht. Der eine oder ande­re Buch­sta­be muss­te dann ein biss­chen dün­ner oder dicker wer­den oder sich in der Linie viel­leicht noch etwas ver­än­dern. Der Schrift­künst­ler hat die Schrift dann nach dem Druck abge­nom­men, sei­ne Schrift. Er war so etwas wie der Herr der Schrif­ten. Er hat ent­schie­den, ob das so gut war oder nicht. Dann ging es spä­ter so in die Pro­duk­ti­on. Der Schrift­gie­ßer mach­te jeweils das Bes­te dar­aus, wenn er es nach­her für das Schrift­bild zusam­men­füg­te. Und dann hat der Schrift­künst­ler irgend­wann gesagt: Ja, so ist es gut, so kann die Dick­te blei­ben. Denn die war ja dann für ewi­ge Zei­ten vor­ge­ge­ben, die Dick­te des ein­zel­nen Buchstabens.“

Die meis­ten Schrift­gie­ßer ver­brach­ten ihr gan­zes Leben inner­halb eines ein­zi­gen Betrie­bes. Auf die Fra­ge, ob man sich ein biss­chen betro­gen fühlt, wenn man sein Leben auf einen Beruf aus­ge­rich­tet hat­te, den es bereits kurz dar­auf nicht mehr geben soll­te, ant­wor­te­te Man­fred Weber 2017: „Nein, das kann man so nicht sagen. Man hat dar­an gehan­gen, an sei­nem Beruf, es war eine schö­ne Zeit. Aber dass man sich betro­gen fühlt, kann man so nicht sagen. Sehen Sie, sonst wür­de ich heu­te nicht hier ste­hen“. Mit die­sem letz­ten Satz ist sei­ne Bereit­schaft gemeint, uns durch Inter­views, sei­ne Lehr­hef­te, Werk­zeu­ge und Fotos einen deut­li­chen sicht­ba­ren Pfad auch in die Zukunft zu wei­sen – ein wich­ti­ger Bei­trag für das Ver­ständ­nis über die Ent­wick­lun­gen von Schrif­ten als Grund­la­ge unse­res Wis­sens und unse­rer heu­ti­gen Codes. Die­ses Gespräch und auch die Digi­ta­li­sa­te sei­ner Lehr­hef­te aus den Jah­ren 1960–1963 sind Teil einer Inter­view­rei­he zur H. Bert­hold AG, in der auch Alex­an­der Nagel, Erik Spie­ker­mann und Armin Wer­nitz ver­tre­ten sind, und ermög­li­chen wich­ti­ge Ein­bli­cke über die Zeit des digi­ta­len Wan­dels in Ber­lin seit den 1960er Jahren.


Um das Jahr 1945 brann­te das Schrif­ten­la­ger der H. Bert­hold AG in Fol­ge von meh­re­ren Bom­ben­tref­fern voll­stän­dig ab. Auch auf einer Post­kar­te der Fir­ma von 1946 steht: „Unser Mus­ter­ma­te­ri­al ist durch die Kriegs­er­eig­nis­se ver­nich­tet wor­den“. In den Ber­li­ner Bestän­den an Matri­zen der H. Bert­hold AG könn­ten jedoch noch eini­ge weni­ge Alt­ma­tern vor­han­den sein aus der Zeit vor dem 2. Welt­krieg. Die Inhal­te der Schub­la­den, in denen die­se Matri­zen nach Schrift­gra­den sor­tiert auf­be­wahrt wur­den, wer­den aktu­ell in hoher Auf­lö­sung durch Foto­gra­fen des Deut­schen Tech­nik­mu­se­ums foto­gra­fiert und mit den (digi­ta­li­sier­ten) Erschlie­ßungs­lis­ten aus dem Jahr 1993 und wei­te­ren Unter­la­gen ver­gli­chen. In die­sen Lis­ten von 1993 sind die Schub­la­den 001 bis 470 in direk­tem Bezug zum Erschlie­ßungs­sys­tem der H. Bert­hold AG ver­zeich­net, zu dem es ein wei­te­res Kar­tei­kas­ten­sys­tem gibt, unter ande­rem mit Mate­rn-Kon­troll­kar­ten. Die Num­mern 157–240 sind in den Lis­ten nicht ent­hal­ten. Sie könn­ten zu dem Teil des Matri­zen-Bestan­des gehö­ren, die ver­mut­lich ab 1978 vom Let­tern­ser­vice Ingol­stadt wei­ter­ge­nutzt wur­den, um im Auf­trag der H. Bert­hold AG Alt-Kun­den, die noch im Blei­satz arbei­te­ten, auf Basis eines Lizenz­sys­tems wei­ter zu belie­fern. Zugangs­mög­lich­kei­ten zu For­schungs­da­ten und Bild­ma­te­ri­al durch Digi­ta­li­sie­rungs­pro­jek­te kön­nen auch hier in der Zukunft gemein­sa­me und ein­rich­tungs­über­grei­fen­de For­schun­gen deut­lich erleich­tern und verbessern.

Eine Schlüs­sel­rol­le spie­len dabei die in den Schub­la­den ent­hal­te­nen Gieß­zet­tel. Für den Ber­li­ner Bestand schät­zen wir deren Anzahl der­zeit auf cir­ca 800 Stück. Sie bil­den eine wich­ti­ge Pri­mär­quel­le für die For­schung, da sie kon­kre­te Daten für den Work­flow lie­fern wie: Namen der Schrift­gie­ßer, Anzahl und Zustand der Zei­chen, wie oft und wann ver­schie­de­ne Schrif­ten gegos­sen wor­den sind, wie erfolg­reich eine Schrift wur­de oder ob sie sich nicht auf dem Markt durch­set­zen konn­te. Die gerin­ge Qua­li­tät von Zell­stoff­pa­pie­ren bei tech­ni­schem Schrift­gut ist eine in tech­ni­schen Muse­en weit ver­brei­te­te Rea­li­tät. Im Fall der Gieß­zet­tel kom­men jedoch auch kor­ro­si­ons­be­ding­te Abbau­pro­zes­se und eine star­ke Ver­schmut­zung in Nut­zungs- und Lage­rungs­kon­tex­ten hin­zu. Auch hier wird es span­nend sein zu sehen, wel­che Wege unter­schied­li­che Ein­rich­tun­gen und Akteur:innen in Zukunft ein­schla­gen wer­den – ange­sichts gro­ßer Her­aus­for­de­run­gen. Im Ide­al­fall wird die­ser Weg gemein­sam beschrit­ten wer­den – wie wir es schon sehr oft erlebt haben, wenn es um „Bert­hold“ geht. Kla­res Ziel ist dabei, die Pro­duk­te einer sehr beson­de­ren Ber­li­ner Fir­ma mit­zu­neh­men, wohin auch immer.


Die­ser Bei­trag wur­de erst­ver­öf­fent­licht im Blog der Staats­bi­blio­thek zu Ber­lin.

Kers­tin Wallbach

Kerstin Wallbach arbeitet im Deutschen Technikmuseum in der Abteilung Sammlung und Ausstellungen sowie im Bereich Finanzen.

Dan Rey­nolds

Dan Reynolds arbeitet am Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien, Abt. Buchwissenschaft der JGU Mainz.