Das Fahr­rad um 1900

Eine kur­ze fran­zö­si­sche Geschichte

Im Jahr 1817 stell­te Karl Drais in Mann­heim sei­ne für vie­le damals eigen­ar­tig anmu­ten­de Erfin­dung vor: eine Lauf­ma­schi­ne. Ein zwei­räd­ri­ges, bald Drai­si­ne genann­tes Gefährt, auf dem man saß und sich fort­be­weg­te, in dem man sich abwech­selnd mit den Füßen vom Boden abstieß.

In den 1860er Jah­ren wur­de das Kon­zept in Paris durch den Ein­bau von Tret­kur­bel­an­trie­ben am Vor­der­rad ver­bes­sert. Da das Vor­der­rad direkt ange­trie­ben wur­de, war die zurück­ge­leg­te Stre­cke pro Kur­bel­um­dre­hung vom Durch­mes­ser des Vor­der­ra­des abhän­gig. Man konn­te also umso schnel­ler fah­ren, je grö­ßer das Vor­der­rad war. So ent­stan­den um 1870 die Hoch­rä­der mit immer grö­ße­ren Vor­der­rä­dern und ver­klei­ner­ten Hin­ter­rä­dern, da sonst der Auf­stieg unmög­lich gewor­den und eine schwer lenk­ba­re Gesamt­län­ge erreicht wor­den wäre. Doch das Fah­ren eines Hoch­r­a­des erfor­der­te eini­ges an Geschick und schwe­re Stür­ze waren kei­ne Sel­ten­heit. Die­ses Pro­blem lös­te in den 1880er Jah­ren das „Sicher­heits­nie­der­rad“, bei dem man sich im Bedarfs­fall wie­der mit bei­den Bei­nen am Boden abstüt­zen konn­te. Es hat­te zwei gleich gro­ße Räder, von denen das vor­de­re gelenkt und das hin­te­re über eine Ket­te ange­trie­ben wur­de. Luft­be­rei­fung sorg­te dafür, dass das Fah­ren etwas kom­for­ta­bler wur­de. Als Rah­men­form hat­te sich, außer beim Damen­rad, die Dia­man­ten­form eta­bliert, die größt­mög­li­che Sta­bi­li­tät bei gerin­gem Mate­ri­al­ver­brauch bot. 1903 kam die Frei­lauf­na­ben­brem­se hin­zu. Bis auf die Ket­ten­schal­tung, die erst um 1930 ent­wi­ckelt wur­de, wies das Nie­der­rad somit bereits alle wesent­li­chen Merk­ma­le heu­ti­ger Fahr­rä­der auf.1

Doch es dau­er­te, bis das Fahr­rad vom Zeit­ver­treib des Adels und geho­be­nen Bür­ger­tums zum Mas­sen­ver­kehrs­mit­tel wur­de. 1890 kos­te­te ein Fahr­rad noch 300 Reichs­mark. Zehn Jah­re spä­ter war der Preis auf 100 Reichs­mark, etwa den Monats­lohn eines Fach­ar­bei­ters, gesun­ken.2 Zahl­rei­che Fir­men, vor allem in Frank­reich, Groß­bri­tan­ni­en und den USA waren in die Pro­duk­ti­on ein­ge­stie­gen und zuneh­mend ratio­na­li­sier­te Fer­ti­gungs­pro­zes­se ermög­lich­ten immer nied­ri­ge­re Ver­kaufs­prei­se. Fahr­rä­der wur­den zuneh­mend für brei­te­re Bevöl­ke­rungs­schich­ten erschwing­lich. Das ver­deut­lich­te auch ein ste­tig wach­sen­des Netz an Händ­lern. Allein in der Pari­ser Ave­nue de la Gran­de-Armée gab es bald mehr als zwan­zig, sodass sie in l’Avenue du Cycle umbe­nannt wur­de.3

1896 fuh­ren bereits eine Mil­li­on Fahr­rä­der auf Frank­reichs Stra­ßen, doch ihr Ein­zug in den All­tag erfolg­te kei­nes­falls geräusch­los. Ins­be­son­de­re die radeln­den Frau­en sorg­ten für erhitz­te Gemü­ter, denn sie bra­chen radi­kal mit dem dama­li­gen Frau­en­bild, das sie auf die Rol­le als Ehe­frau, Mut­ter und Haus­frau beschränk­te. Gene­rell wur­den Beden­ken wegen der angeb­lich gesund­heits­schä­di­gen­den Wir­kung des Rad­fah­rens geäu­ßert. Ärz­te spe­zia­li­sier­ten sich sogar auf „Rad­fahr­kran­ke“ und Anti-Rad­ler-Ver­bän­de ver­such­ten das gefähr­li­che Fahr­rad ganz aus den Städ­ten zu ver­ban­nen. Die Wider­stän­de betra­fen aller­dings nicht das Fahr­rad allein, son­dern rich­te­ten sich auch gegen ande­re Ver­kehrs­mit­tel, die damals das Ver­ständ­nis für Raum und Zeit eben­so ver­än­der­ten, wie sie gesell­schaft­li­che Gewohn­hei­ten und Hier­ar­chien infra­ge stell­ten. In oft pseu­do-wis­sen­schaft­li­chen Abhand­lun­gen wur­de der schäd­li­che Cha­rak­ter der Geschwin­dig­keit und die „Ver­lot­te­rung der Sit­ten“ beschrie­ben.4

Außer­dem beklag­ten Ver­tre­ter der ver­schie­dens­ten Bran­chen laut­hals die ver­meint­lich ver­häng­nis­vol­len wirt­schaft­li­chen Fol­gen des Fahr­rad­booms, denn nach wie vor war das Fahr­rad eine teu­re Anschaf­fung und für die meis­ten nur durch Spa­ren und den Ver­zicht auf ande­re Aus­ga­ben zu errei­chen. Auf die­se Wei­se sei der Umsatz von Juwe­lie­ren, Uhr­ma­chern, Kla­vier­händ­lern und Her­ren­schnei­dern zurück­ge­gan­gen. Da die Men­schen so viel Zeit auf dem Rad ver­bräch­ten, wür­den sie auch sel­te­ner ins Thea­ter gehen und weni­ger Zigar­ren und Zei­tun­gen kau­fen. Sogar die sonn­täg­li­chen Got­tes­diens­te sei­en lee­rer wegen den vie­len Aus­flü­gen oder Besu­chen von Rad­ren­nen. Ein Kri­ti­ker in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten nann­te das Fahr­rad daher gar „die ers­te gro­ße Atta­cke der ame­ri­ka­ni­schen Tech­nik auf die insti­tu­tio­na­li­sier­te Reli­gi­on“5.

Den Beden­ken­trä­gern zum Trotz ließ sich der Erfolg des Fahr­rads nicht auf­hal­ten. Im Pri­va­ten begeis­ter­te es durch eine nie gekann­te Ein­fach­heit, die Umge­bung zu erkun­den. Die Wirt­schaft erkann­te schnell, dass es auch als Arbeits­ge­rät ein­setz­bar war. Durch den ver­grö­ßer­ten Bewe­gungs­ra­di­us war es Men­schen außer­dem mög­lich, wei­ter ent­fernt von ihrer Arbeits­stel­le zu leben, wovon man sich eine Ent­span­nung der teils pre­kä­ren Wohn­ver­hält­nis­se in indus­tri­ell gepräg­ten Regio­nen ver­sprach. In der Frei­zeit lock­te der Rad­sport mit Span­nung – 1903 wur­de die ers­te Tour de France aus­ge­tra­gen – eben­so wie toll­küh­ne Fahr­rad­akro­ba­tik und Rei­sen­de wag­ten sich sogar bereits mit dem Rad in fer­ne Länder.

Gestei­ger­te Impor­te güns­ti­ger Fahr­rä­der aus ame­ri­ka­ni­scher Pro­duk­ti­on sorg­ten in Euro­pa für zuneh­men­de Kon­kur­renz. Vor allem die vie­len klei­nen Her­stel­ler und jun­gen Unter­neh­men, wel­che ins­be­son­de­re in Frank­reich in den Markt ein­ge­stie­gen waren, über­leb­ten den Preis­kampf nicht.6 Doch die posi­ti­ve Sei­te die­ser Ent­wick­lung war, dass sich das Fahr­rad mehr und mehr vom Sport­ge­rät und Luxus­ar­ti­kel zum all­täg­li­chen Ver­kehrs­mit­tel wandelte.

  1. Bäu­mer, Mario / Muse­um der Arbeit (Hg.): Das Fahr­rad: Kul­tur — Tech­nik — Mobi­li­tät, Juni­us Ver­lag, Ham­burg 2014, S. 21. ↩︎
  2. Les­sing, Hans-Erhard: Das Fahr­rad — Eine Kul­tur­ge­schich­te, Klett-Cot­ta, Stutt­gart 2017, S. 141. ↩︎
  3. Ren­nert, Jack: 100 Jah­re Fahr­rad-Pla­ka­te: eine Samm­lung von 96 Repro­duk­tio­nen, Rem­brandt Ver­lag, Ber­lin 1974, S.3. ↩︎
  4. Mal­va­che, Jean Luc: Das Fahr­rad als Schnitt­stel­le zwi­schen Indi­vi­du­um und Mas­se und Indus­trie und Natur, in: Gegen­wind – Zur Geschich­te des Rad­fah­rens, Ker­ber, Bie­le­feld 1995, S. 35. ↩︎
  5. Dodge, Pryor: Fas­zi­na­ti­on Fahr­rad: Geschich­te — Tech­nik — Ent­wick­lung, Deli­us Klasing, Bie­le­feld 2011, S. 120. ↩︎
  6. Freund, Flo­ri­an: Velo Evo­lu­ti­on – Fahr­rad­ge­schich­te, Ent­wick­lung, Design, Hin­ter­grün­de, Maxi­me Ver­lag, Gera 2014, S. 35. ↩︎
Tobi­as Baldus

Tobias Baldus ist Co-Kurator der Ausstellung „Freiheit auf zwei Rädern – Das Fahrrad auf französischen Plakaten um 1900“. Er ist bei einem Berliner Auktionshaus tätig und schreibt nebenbei für verschiedene Publikationen, insbesondere zu reklame- und verkehrsgeschichtlichen Themen.