Zwi­schen Ver­klä­rung und Emanzipation

Frau­en in frü­hen Fahrradplakaten

Frau­en­fi­gu­ren waren in fran­zö­si­schen Pla­ka­ten der Jahr­hun­dert­wen­de all­ge­gen­wär­tig – auch in der Fahr­rad­wer­bung für ver­schie­dens­te Her­stel­ler und Marken.

Zahl­rei­che Ent­wür­fe legen den Fokus ganz auf jugend­lich-attrak­ti­ve „Wer­be­da­men“, die als Blick­fang fun­gie­ren. Das eigent­li­che Pro­dukt erscheint als blo­ße Neben­sa­che: Die Räder wer­den von den Figu­ren ver­deckt oder vom Bild­rand über­schnit­ten, oft ist nur noch der Len­ker sicht­bar. Die Plakatgestalter:innen umgin­gen damit die Wie­der­ga­be kom­ple­xer tech­ni­scher Details wie Rad­spei­chen oder Ket­ten­an­trieb, deren kor­rek­te Dar­stel­lung sie vor Her­aus­for­de­run­gen stell­te und zugleich als wenig ansehn­lich galt.1

Umso ein­drück­li­cher und viel­fäl­ti­ger erschei­nen die Wer­be­fi­gu­ren – von der ver­träum­ten, mäd­chen­haf­ten Gestalt in Hen­ri­et­te Bress­lers Pla­kat für Cycles Hum­bler über PALs wehr­haf­te Wal­kü­re für Cycles Libera­tor bis zu der kecken, modi­schen Rad­fah­re­rin, die Tama­g­no für Ter­rot Cycles ent­warf. So groß die moti­vi­sche Band­brei­te auf den ers­ten Blick sein mag, las­sen sich doch stets wie­der­keh­ren­de Typen aus­ma­chen, die sowohl über die zen­tra­len Bild­stra­te­gien der dama­li­gen Wer­bung als auch über den Wan­del des vor­herr­schen­den weib­li­chen Rol­len­ide­als Auf­schluss geben.

Selbst­be­wuss­te Trendsetterinnen

Dyna­mik und Fahr­ver­gnü­gen sind zwei wie­der­keh­ren­de Ver­spre­chen der Fahr­rad­pla­ka­te um 1900, bevor­zugt dar­ge­stellt durch zeit­ge­nös­si­sche Frau­en, die eben­so sou­ve­rän wie schnell unter­wegs sind. Die Rad­fah­re­rin­nen erschei­nen betont stil­si­cher; ihre Gar­de­ro­be ent­spricht der neu­es­ten Mode: Eng tail­lier­te Blu­sen mit volu­mi­nö­sen Schul­tern und einer schmal zulau­fen­den Unter­arm­par­tie – soge­nann­te Ham­mel­keu­len­är­mel – wer­den mit wei­ten, lan­gen Röcken oder Pump­ho­sen kom­bi­niert. Kra­wat­ten und Flie­gen sind als Remi­nis­zenz der Fahr­rad­mo­de an die Her­ren­be­klei­dung zu ver­ste­hen.2 Klei­ne Hüte, teils mit Feder­schmuck, run­den das Ensem­ble ab. Ihre Klei­dung weist die Dar­ge­stell­ten als begü­ter­te Städ­te­rin­nen aus – auch wenn das Umfeld, in dem sie sich bewe­gen, nicht näher defi­niert ist oder eher länd­lich-natur­nah erscheint. Tat­säch­lich ver­leg­te die städ­ti­sche Bour­geoi­sie ihre Fahr­rad­aus­flü­ge ins Grü­ne, um sich sozi­al abzu­gren­zen, als Fahr­rä­der zu Ende des 19. Jahr­hun­derts auch für die Arbeiter:innenschaft erschwing­lich wur­den.3 Die Pla­kat­wer­bung sucht so, den Ein­druck von Exklu­si­vi­tät zu vermitteln.

Kon­kret las­sen sich die „Wer­be­da­men“ auf­grund der modi­schen Auf­ma­chung wie auch ihres selbst­si­che­ren Auf­tre­tens als Pari­si­en­nes iden­ti­fi­zie­ren – ein um 1900 über­aus belieb­ter, in Kunst und Medi­en omni­prä­sen­ter Ste­reo­typ: Die fran­zö­si­sche Haupt­stadt galt als inter­na­tio­nal bedeu­ten­de Mode­me­tro­po­le, ihre Bewoh­ne­rin­nen als Inbe­griff von Stil und Ele­ganz.4 So erklär­te etwa der Jour­na­list Mau­rice Guil­l­emot 1895, die Pari­se­rin wer­de auf­grund ihres Schicks welt­weit erkannt.5 Die Pari­si­en­ne erscheint in der Wer­bung der Zeit als eman­zi­pier­te Trend­set­te­rin, neben Mode­be­wusst­sein ver­kör­pert sie ganz all­ge­mein urba­ne Moder­ni­tät. In den frü­hen Fahr­rad­pla­ka­ten soll­te der Typus vor allem ver­brei­te­ten Vor­ur­tei­len ent­ge­gen­wir­ken: Rad­fah­ren erfreu­te sich um 1900 zwar gro­ßer Beliebt­heit, war für Frau­en jedoch noch höchst umstrit­ten. Ganz all­ge­mein galt kör­per­li­che Anstren­gung als mit weib­li­cher Anmut unver­ein­bar und damit unschick­lich6 – die Pla­ka­te suchen dies mit betont modi­schen „Wer­be­da­men“ zu ent­kräf­ten, die selbst in flot­ter Fahrt nichts von ihrer Ele­ganz einbüßten.

Zudem stan­den die Sät­tel im Ver­dacht, die Rad­fah­re­rin­nen per­ma­nent sexu­ell zu sti­mu­lie­ren und zugleich orga­nisch zu schä­di­gen; sogar Unfrucht­bar­keit wur­de befürch­tet.7 Spe­zi­al­an­fer­ti­gun­gen wie der „ana­to­mi­sche und hygie­ni­sche“ Sat­tel der Mar­ke Chris­ty soll­ten hier Abhil­fe schaffen.

Strit­tig war auch die Klei­dung der Rad­fah­re­rin­nen, deren ver­schie­de­ne Vari­an­ten sich in den Pla­ka­ten fin­den: Die für Frau­en damals übli­chen lan­gen Klei­der und Röcke waren zum Fahr­rad­fah­ren denk­bar unge­eig­net. In den Saum ein­ge­ar­bei­te­te Gewich­te soll­ten ver­hin­dern, dass die Roben sich ver­fin­gen oder im Fahrt­wind flat­ter­ten. Geteil­te Röcke lie­ßen sich mit­tels Knopf­leis­ten zu Hosen umwan­deln. Aller Schick­lich­keits­be­den­ken zum Trotz bevor­zug­ten zahl­rei­che Rad­fah­re­rin­nen jedoch prak­ti­sche Hosen. En vogue waren als Bloo­mers bezeich­ne­te Pump­ho­sen, die ihren Namen der ame­ri­ka­ni­schen Frau­en­rechts­ak­ti­vis­tin Ame­lia Bloo­mer ver­dank­ten.8

Nicht nur die Klei­dung der „Wer­be­da­men“ lässt das eman­zi­pa­to­ri­sche Poten­ti­al des Rad­fah­rens erah­nen – sind die Dar­ge­stell­ten doch zumeist ohne männ­li­che Beglei­tung unter­wegs. Die Pla­ka­te kon­ter­ka­rie­ren damit das um 1900 nach wie vor gän­gi­ge Geschlech­ter­rol­len­bild, dass die pas­si­ve Frau vor allem im häus­li­chen Umfeld ver­or­te­te. Män­ner dage­gen soll­ten sich aktiv im Arbeits­le­ben behaup­ten. Dass eine Frau sich allein in der Öffent­lich­keit auf­hielt, hat­te noch zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts als gänz­lich unschick­lich gegol­ten.9 Die Wer­be­mo­ti­ve zei­gen so eine Erwei­te­rung des weib­li­chen Bewe­gungs­ra­di­us und die damit ein­her­ge­hen­de Unab­hän­gig­keit, die einen Bruch mit star­ren sozia­len Nor­men markiert.

Ent­rück­te Idealgestalten

Neben zeit­ge­nös­si­schen Sze­nen und Figu­ren, die auf eine Iden­ti­fi­ka­ti­on der Betrachter:innen ziel­ten, grif­fen die frü­hen Wer­be­pla­ka­te viel­fach auf über­kom­me­ne Dar­stel­lungs­mus­ter alle­go­ri­scher Per­so­ni­fi­ka­tio­nen zurück. Tra­di­tio­nell ver­bild­lich­ten die­se abs­trak­te Begriff­lich­kei­ten in mensch­li­cher Gestalt. Im 19. Jahr­hun­dert wur­den sie jedoch auch ver­mehrt genutzt, um eigent­lich kon­kret Fass­ba­res zu ver­sinn­bild­li­chen, das damit in sei­ner Bedeu­tung über­höht erschien. Vor allem die Pla­kat­kunst bedien­te sich dabei bevor­zugt weib­li­cher Figu­ren, wel­che die bewor­be­ne Mar­ke selbst ver­kör­pern. In der Regel prä­sen­tie­ren die Dar­ge­stell­ten völ­lig pas­siv Attri­bu­te, die über die Vor­zü­ge des Pro­dukts Auf­schluss geben sol­len. So fin­det sich häu­fig der Lor­beer­kranz als seit der Anti­ke gän­gi­ges Ruh­mes­zei­chen. Ham­mer und Amboss ver­wei­sen auf hand­werk­li­che Qua­li­tät – ein Ana­chro­nis­mus in Zei­ten indus­tri­el­ler Fer­ti­gung, der etwa in PALs Pla­kat für Cycles Clé­ment offen zuta­ge tritt: Dort ist zugleich die Fabrik des Her­stel­lers ins Bild gesetzt. Eine sol­che moti­vi­sche Kon­fron­ta­ti­on von kunst­his­to­ri­scher Tra­di­ti­on und gegen­wär­ti­ger Lebens­rea­li­tät ist sym­pto­ma­tisch für die Pla­kat­kunst der Zeit,10 in der ange­sichts rapi­den tech­ni­schen Fort­schritts und gesell­schaft­li­chen Wan­dels die Gül­tig­keit über­kom­me­ner Bild­for­meln hin­ter­fragt wur­de. Poin­tiert for­mu­lier­te dies Karl Marx:

„Wo bleibt Vul­kan gegen Roberts & Co […] Jupi­ter gegen den Blitz­ab­lei­ter und Her­mes gegen den Cré­dit mobi­lier? Ist Achil­les mög­lich mit Pul­ver und Blei? Oder über­haupt die Illia­de mit der Dru­cker­pres­se und der Druck­ma­schi­ne? Hört das Sin­gen und Sagen und die Muse mit dem Preß­ben­gel nicht not­wen­dig auf…?“11

Die Plakatgestalter:innen nutz­ten die über­kom­me­nen, zuvor heh­ren Inhal­ten vor­be­hal­te­nen Bild­for­meln, um die an sich bana­len Wer­be­bot­schaf­ten mit ver­meint­li­cher Bedeut­sam­keit auf­zu­la­den. Die­se sinn­bild­li­che Ver­schlüs­se­lung wirkt einer schnel­len Erfass­bar­keit ent­ge­gen, for­dert viel­mehr eine ver­tief­te Aus­ein­an­der­set­zung – doch mache gera­de dies den Inhalt ein­präg­sa­mer, so die dama­li­ge Über­zeu­gung.12

Statt des Pro­dukts rücken die alle­go­ri­schen Pla­kat­mo­ti­ve die Wer­be­fi­gu­ren in den Fokus; zumeist weib­lich, attrak­tiv und leicht beklei­det, sol­len sie das Begeh­ren der (männ­li­chen) Kon­su­men­ten wecken, damit die­ses sich auf die Ware über­trägt. Ihr Auf­tre­ten wie auch ihre Klei­dung – anti­kisch anmu­ten­de Gewän­der, die mehr ent­hül­len als ver­de­cken, oder offen­her­zi­ge Fan­ta­sie­kos­tü­me – ent­he­ben die Dar­ge­stell­ten gänz­lich der zeit­ge­nös­si­schen Lebens­welt. Durch die­se Rea­li­täts­fer­ne wie auch die Anbin­dung an die Kunst­tra­di­ti­on schien den Zeitgenoss:innen die teil­wei­se Ent­blö­ßung der Figu­ren legi­ti­miert.13 Die Kör­per der Frau­en wer­den zu Wer­be­zwe­cken instru­men­ta­li­siert, erschei­nen für belie­bi­ge Bedeu­tungs­zu­schrei­bun­gen ver­füg­bar. Die von restrik­ti­ven Rol­len­zwän­gen gepräg­te Lebens­wirk­lich­keit rea­ler Frau­en wie auch das eman­zi­pa­to­ri­sche Poten­ti­al des Fahr­rads wer­den dage­gen gänz­lich ausgeblendet.

Von der ent­rück­ten alle­go­ri­schen Per­so­ni­fi­ka­ti­on bis hin zur mode­be­wuss­ten, unab­hän­gi­gen Zeit­ge­nos­sin, die sich uner­schro­cken aufs Rad schwingt, ver­bild­li­chen die frü­hen Fahr­rad­pla­ka­te in ihrer moti­vi­schen Band­brei­te kon­trä­re Sicht­wei­sen auf Weib­lich­keit und geben so Zeug­nis eines sich wan­deln­den Geschlech­ter­rol­len­bil­des: Idea­li­sie­ren­de Über­hö­hung trifft auf ein eman­zi­pa­to­ri­sches Stre­ben nach Unabhängigkeit.

  1. Jack Rennert:100 Jah­re Fahr­rad-Pla­ka­te, Ber­lin 1973 (künf­tig zitiert: Ren­nert 1973), S. 3f. ↩︎
  2. Els de Baan: Frau­en­klei­dung. Mit der Zeit gehen. In: Göt­tin­nen des Jugend­stils, Ausst.-Kat. All­ard Pier­son Amsterdam/Badisches Lan­des­mu­se­um Karlsruhe/Braunschweigisches Lan­des­mu­se­um, hg. von Wim Hup­pe­retz u. a., Darm­stadt 2021 (künf­tig zitiert: Kat. Amsterdam/Karlsruhe/Braunschweig 2001), S. 91–101, hier S. 100. ↩︎
  3. Vgl. Ren­nert 1973, S. 3f. ↩︎
  4. Vgl. Ruth E. Iskin: Modern Women and Pari­si­an Con­su­mer Cul­tu­re in Impres­sio­nist Pain­ting, Diss. Uni­ver­si­ty of Cam­bridge, New York City 2007, S. 184–186. ↩︎
  5. Vgl. Mau­rice Guil­l­emot: La ‘peti­te femme’ de Bou­tet. In: La Plu­me, Nr. 146/15.5.1895, S. 206–208. ↩︎
  6. Eliza­beth K. Menon: Images of Plea­su­re and Vice. Women on the Frin­ge. (künf­tig zitiert: Menon 2001) In: Gabri­el P. Weiss­berg (Hg.): Mont­mart­re and the Making of Mass Cul­tu­re, New Brunswick/London 2001, 37–71, hier S. 55–58. ↩︎
  7. Ruth E. Iskin: Jugend­stil und die Neue Frau. Stil, Ambi­va­lenz und Poli­tik. In: Kat. Amsterdam/Karlsruhe/Braunschweig 2001, S. 33–49, hier S. 45. ↩︎
  8. Vgl. ebd., S. 44–46. ↩︎
  9. Vgl. Karin Hau­sen: Die Pola­ri­sie­rung der ‚Geschlechts­cha­rak­te­re’ – Eine Spie­ge­lung der Dis­so­zia­ti­on von Erwerbs- und Fami­li­en­le­ben. In: Wer­ner Con­ze (Hg.): Sozi­al­ge­schich­te der Fami­lie in der Neu­zeit Euro­pas. Stutt­gart 1976 [ = Indus­tri­el­le Welt. Schrif­ten­rei­he des Arbeits­krei­ses für moder­ne Sozi­al­ge­schich­te, Bd. 21], S. 363–393, hier S. 379; Eliza­beth Wil­son: In Träu­me gehüllt. Mode und Moder­ni­tät, Ham­burg 1989, S. 44. ↩︎
  10. Vgl. Mar­kus Mül­ler: Der Gen­tle­man mit dem Brech­ei­sen. Hen­ri de Tou­lou­se-Lautrec und das zeit­ge­nös­si­sche Kunst­pla­kat. In: Afficho­ma­nie – Pla­kat­wahn. Tou­lou­se-Lautrec & die fran­zö­si­sche Pla­kat­kunst um 1900, Ausst.-Kat. Gra­phik­musuem Pablo Picas­so Münster/Kunstmuseum Hei­den­heim, hg. von dems., Bönen 2003, S. 11–28, hier S. 12. ↩︎
  11. Karl Marx: Bei­trag zur Kri­tik der poli­ti­schen Öko­no­mie, 1859, zit. nach: Wer­ner Hof­mann: Das irdi­sche Para­dies. Kunst im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert, Mün­chen 1960, S. 31. ↩︎
  12. Vgl. Mar­tin Henatsch: Die Ent­ste­hung des Pla­ka­tes. Eine rezep­ti­ons­äs­the­ti­sche Unter­su­chung, Diss. Uni­ver­si­tät Kiel, Hildesheim/Zürich/New York 1994 [= Stu­di­en zur Kunst­ge­schich­te, Bd. 91], S. 256. ↩︎
  13. Vgl. Menon 2001, S. 39f. ↩︎
Bar­ba­ra Martin

Barbara Martin studierte Kunstgeschichte und Angewandte Kulturwissenschaft in Karlsruhe sowie Kuratorisches Wissen und Kunstpublizistik in Bochum. Sie promovierte 2014 zum Frauenbild im französischen Plakat des Fin de siècle. Nach einem Volontariat am Landesmuseum Hannover war Barbara Martin dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Weitere berufliche Stationen als Kuratorin umfassten die Galerie Stihl Waiblingen, die Städtischen Museen Heilbronn sowie das Kunstmuseum Bonn.