L’Affichomanie

Pla­ka­te­sam­meln wird zum Phänomen

In den 1890er Jah­ren war die Auf­re­gung um Pla­ka­te auf ihrem Höhe­punkt ange­langt. Händler:innen haben sich auf den Pla­ka­than­del spe­zia­li­siert, Aus­stel­lun­gen wur­den orga­ni­siert, Ver­ei­ne und Pla­kat-Zeit­schrif­ten gegrün­det. Ein Phä­no­men, dem der biblio­phi­le Ver­le­ger Octa­ve Uzan­ne 1891 mit dem Wort „Afficho­ma­nie“ einen Namen gab und das in Deutsch­land bald als „Pla­kat­sucht“ bezeich­net wur­de. Die Affi­chen (franz. für Pla­kat) waren zum heiß begehr­ten Sam­mel­gut geworden.

1886 hat­te Ernest Main­dron, Sekre­tär der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und lei­den­schaft­li­cher Samm­ler, mit „Les Affi­ches illus­trées“ die ers­te umfang­rei­che Stu­die des Medi­ums vor­ge­legt, und der Kunst­kri­ti­ker Hen­ri Béral­di for­der­te, dass Pla­ka­te genau­so kata­lo­gi­siert wer­den müss­ten, wie etwa Sti­che oder Radie­run­gen. Grafikliebhaber:innen began­nen sich für Pla­ka­te zu inter­es­sie­ren, und beson­ders ange­se­he­ne Blät­ter, wie etwa das Moulin-Rouge-Pla­kat von Hen­ri de Tou­lou­se-Lautrec, stie­gen inner­halb kur­zer Zeit mas­siv im Wert.

Ver­mehrt boten Grafikhändler:innen Pla­ka­te an, die sie ent­we­der direkt von den Dru­cke­rei­en oder den Her­stel­ler­fir­men erwar­ben. Bald hat­ten sich Arnould, Pier­re­fort und Edmond Sagot mit umfang­rei­chen Sor­ti­men­ten und bes­ten Kon­tak­ten an die Spit­ze der Bran­che gesetzt. Sagots Kata­log aus dem Jahr 1891 umfass­te 2100 Pla­ka­te, dar­un­ter 1296 künst­le­ri­sche1, was bereits eine Ein­schät­zung über die Grö­ße des Mark­tes zulässt. Übli­cher­wei­se kauf­te er in 10er bis 20er Men­gen ein, war aber auch in der Lage, von beson­de­ren Exem­pla­ren an Stück­zah­len von bis zu 900 zu gelan­gen. Im Ver­kauf vari­ier­ten die Prei­se von zwei bis zu 50 Francs2. Wer woll­te, konn­te sich das erwor­be­ne Pla­kat in den Gale­rien auch gleich für zwei­ein­halb Francs rah­men las­sen. Eine Mög­lich­keit, von der vor allem Pas­san­ten und Tourist:innen Gebrauch gemacht haben sol­len, deren Spon­tan­käu­fe einen wich­ti­gen Teil von Sagots Geschäft dar­stell­ten.3

Die seriö­sen Sammler:innen dage­gen, 1897 soll es in Paris 900 von ihnen gege­ben haben, kauf­ten meist in grö­ße­ren Men­gen. Es waren vor allem wohl­ha­ben­de Män­ner, dar­un­ter Nota­re, Bür­ger­meis­ter oder Indus­tri­el­le, deren Samm­lun­gen nicht sel­ten meh­re­re tau­send Pla­ka­te umfass­ten. Sie beauf­trag­ten Händler:innen mit der Suche nach ein­zel­nen Exem­pla­ren und stan­den mit­un­ter auch in per­sön­li­chem Kon­takt zu den Plakatgestaler:innen.

Doch die gro­ßen, emp­find­li­chen Papie­re, durch­schnitt­lich etwa 90 x 120 Zen­ti­me­ter, waren schwer auf­zu­be­wah­ren und lie­ßen sich auch nur schlecht „blät­tern“ – die sonst so geschätz­te Art und Wei­se, sich mit der eige­nen Druck­gra­fik­samm­lung aus­ein­an­der­zu­set­zen. Aus die­sem Grund wur­den sogar eigens Möbel und Stän­der her­ge­stellt, um Pla­ka­te adäquat bestau­nen und prä­sen­tie­ren zu kön­nen, ohne dass die­se Scha­den nahmen.

Im Gegen­satz zu den bür­ger­li­chen Sammler:innen ver­ab­scheu­te die Pari­ser Bohè­me sol­ches Stre­ben nach Makel­lo­sig­keit. Bevor­zugt wur­den in Nacht und Nebel­ak­tio­nen erbeu­te­te Exem­pla­re mit Gebrauchs­spu­ren. Man folg­te den Plakatkleber:innen und stahl die Pla­ka­te hin­ter deren Rücken von den Wän­den. Kein leich­tes Unter­fan­gen, denn die Objek­te der Begier­de ris­sen dabei meist in Fet­zen. So schnell wie mög­lich muss­te der Kleis­ter abge­wa­schen, muss­ten die Frag­men­te gerei­nigt, danach getrock­net und wie­der exakt zusam­men­ge­setzt wer­den. Der Lohn waren Pla­ka­te, wel­che die „ruhm­rei­chen Spu­ren ihrer kur­zen Aus­stel­lung auf der ein oder ande­ren Mau­er“ zeig­ten.4

Auch wenn die­se Form des Sam­melns span­nen­de Anek­do­ten lie­fer­te, war sie wohl nicht sehr ver­brei­tet. Der ein­fa­che­re Weg war es stets gewe­sen, die Plakatkleber:innen zu bestechen. Dies geschah in einem sol­chen Aus­maß, dass deren Arbeit bald streng kon­trol­liert wur­de. Pla­ka­te des Künst­lers Jules-Alex­and­re Grün kamen anschei­nend beson­ders oft abhan­den, was die Dru­cke­rei Chaix dazu ver­an­lass­te, sie mit fol­gen­dem Auf­druck zu ver­se­hen: „Jede Per­son, die im Besitz die­ses Pla­kats ist, wird straf­recht­lich ver­folgt“5.

Die Beau Mon­de war vor allem an der geschmack­vol­len Deko­ra­ti­on der eige­nen Woh­nung inter­es­siert. Die Pla­kat­pro­duk­ti­on pass­te sich die­sem Bedürf­nis mit den „Affi­ches d’interieur“ an. Dies waren meist klei­ne­re Pla­ka­te, die gezielt für die Innen­räu­me gedacht waren und sich in ihren dif­fe­ren­zier­ten Farb­kom­po­si­tio­nen kaum noch für Außen­wer­bung geeig­net hät­ten. Die Händ­ler ver­dien­ten präch­tig an der Ent­wick­lung. Edmond Sagot wies in sei­nen Kata­lo­gen sogar gezielt auf die schier end­lo­sen Mög­lich­kei­ten zur Hän­gung hin: „Salon, Ess­zim­mer, Schlaf­zim­mer, Rau­cher­sa­lon, Bad, in der Toi­let­te, den Flu­ren, dem Foy­er etc., etc.“.6

Gleich­zei­tig blüh­te der Markt für Pla­kat­mo­ti­ve im noch­mals hand­li­che­ren Folio-For­mat, die in gro­ßer Zahl von Buch­hand­lun­gen oder Zeit­schrif­ten wie „L’Estampe et l’Affiche“, „Coco­ri­co“ oder „La Plu­me“ ver­trie­ben wur­den. Zwi­schen 1896 und 1900 brach­te die Dru­cke­rei Chaix unter dem Titel „Les Maî­tres de l’affiche“ klei­ne, hoch­wer­ti­ge Repro­duk­tio­nen von 256 aus­ge­wähl­ten Pla­ka­ten her­aus, die im Abon­ne­ment bezo­gen wer­den konn­ten. Es war zu einem Wan­del gekom­men, vom künst­le­ri­schen Pla­kat als öffent­li­che Rekla­me für die Stra­ße zum deko­ra­ti­ven Kunst­werk für das Inte­ri­eur oder sam­mel­ba­ren Kunstdruck.

Mit der Jahr­hun­dert­wen­de ging das Inter­es­se an Pla­ka­ten wie an der Druck­gra­fik all­ge­mein stark zurück. Im sich for­mie­ren­den moder­nen Kunst­markt wur­de zuneh­mend zwi­schen ange­wand­ter und frei­er Kunst unter­schie­den. Die Sammler:innen, die von den frü­hen künst­le­ri­schen Pla­ka­ten so begeis­tert waren, inter­es­sier­ten sich weni­ger für die zuneh­mend nach ers­ten Rekla­me­theo­rien gefer­tig­ten pro­fes­sio­nel­len Ent­wür­fe. Sie wand­ten sich wie­der ande­ren Sam­mel­ge­bie­ten zu, wie etwa der Male­rei. Wer­be­tech­nisch dürf­ten die künst­le­risch-expres­si­ven Pla­ka­te nur begrenzt erfolg­reich gewe­sen sein. Durch den Samm­ler­markt waren sie vor­über­ge­hend aber ein rie­si­ges Geschäft.

  1. De Car­val­ho, Rosa: Prints in Paris 1900 – von eli­tär bis popu­lär, Bel­ser, Stutt­gart 2017, S. 91. ↩︎
  2. Zum Ver­gleich: Eine Mahl­zeit in einem Restau­rant kos­te­te damals etwa drei Francs, das Jah­res­abon­ne­ment der Sati­re­zeit­schrift Le Rire acht Francs. ↩︎
  3. Weill, Alain: The Art Nou­veau Pos­ter, Fran­cis Lin­coln Limi­t­ed Publishers, Lon­don 2015, S. 31. ↩︎
  4. Cohen, Alex­an­der: In Opstand, Andries Blitz, Ams­ter­dam 1932, S. 127. ↩︎
  5. Weill, Alain: The Art Nou­veau Pos­ter, S. 31. ↩︎
  6. De Car­val­ho, Prints in Paris 1900, S. 101. ↩︎
Tobi­as Baldus

Tobias Baldus ist Co-Kurator der Ausstellung „Freiheit auf zwei Rädern – Das Fahrrad auf französischen Plakaten um 1900“. Er ist bei einem Berliner Auktionshaus tätig und schreibt nebenbei für verschiedene Publikationen, insbesondere zu reklame- und verkehrsgeschichtlichen Themen.