Wer­bung wird Kunst

Pla­ka­te um 1900

Die wahr­haft zeit­ge­mä­ße Kunst­form sei­ner Epo­che, so der Kunst­kri­ti­ker Roger Marx 1897, sei das Wer­be­pla­kat: „…es ist das beweg­li­che, ver­gäng­li­che Gemäl­de, wie es ein Zeit­al­ter, erfasst von der Ten­denz zur All­ge­mein­ver­ständ­lich­keit und voll von Wan­del, erfor­dert.“1

Marx‘ Zei­len geben Zeug­nis vom hohen Stel­len­wert des Pla­kats um 1900. Jen­seits sei­ner kom­mer­zi­el­len Funk­ti­on wur­de das noch jun­ge Wer­be­me­di­um als voll­wer­ti­ge Kunst­form auf­ge­fasst und erfreu­te sich größ­ter Beliebt­heit; Zeitgenoss:innen spra­chen gar von afficho­ma­nie – einem regel­rech­ten Plakatwahn.

Die Vor­aus­set­zun­gen hier­für hat­te im 19. Jahr­hun­dert die Indus­tria­li­sie­rung geschaf­fen: Dank der maschi­nel­len Mas­sen­fer­ti­gung über­stieg die Men­ge der pro­du­zier­ten Güter erst­mals deut­lich den tat­säch­li­chen Bedarf. Die Nach­fra­ge von Sei­ten der Käufer:innen muss­te daher durch Wer­bung for­ciert wer­den. Vor allem nicht lebens­not­wen­di­ge Pro­duk­te und Luxus­wa­ren, aber auch tech­ni­sche Neue­run­gen wie das Fahr­rad wur­den inten­siv beworben.

Die schnell wach­sen­den Städ­te der Zeit waren ein bes­tens geeig­ne­tes Umfeld für Pla­kat­wer­bung; gera­de­zu idea­le Bedin­gun­gen bot Paris: Im Zuge weit­rei­chen­der Umbau­maß­nah­men unter Baron Hauss­mann muss­ten die alten, ver­win­kel­ten Gas­sen der Stadt ab 1853 moder­nen Bou­le­vards wei­chen. Die dort fla­nie­ren­den Men­schen­mas­sen ver­spra­chen eine brei­te öffent­li­che Wahr­neh­mung der Rekla­me­bot­schaf­ten. Die omni­prä­sen­ten Bau­zäu­ne eig­ne­ten sich zudem her­vor­ra­gend als Anschlag­flä­chen.2

Hin­zu kam die Stel­lung der fran­zö­si­schen Haupt­stadt als Zen­trum der dama­li­gen Kunst­welt: Zwar ver­füg­ten Groß­bri­tan­ni­en und die USA bereits deut­lich frü­her als Frank­reich über die nöti­gen tech­ni­schen Kennt­nis­se, um groß­for­ma­ti­ge Wer­be­pla­ka­te zu dru­cken, doch wur­de das Medi­um hier rein funk­tio­nal, ohne künst­le­ri­schen Anspruch gese­hen.3 Es bedurf­te des krea­ti­ven Poten­ti­als der in Paris ansäs­si­gen Künstler:innen, damit aus einem blo­ßen Wer­be­me­di­um hoch­wer­ti­ge Pla­kat­kunst her­vor­ge­hen konn­te. Eine Schlüs­sel­fi­gur in die­ser Ent­wick­lung war der 1836 gebo­re­ne Jules Ché­ret.4 Als aus­ge­bil­de­ter Litho­graf ver­stand er es nicht nur, den Druck­vor­gang maß­geb­lich zu ver­ein­fa­chen, son­dern revo­lu­tio­nier­te auch die Gestal­tung der Pla­ka­te. Hat­ten bild­li­che Dar­stel­lun­gen zuvor nur als Bei­werk für text­las­ti­ge Anschlä­ge fun­giert, so setz­te Ché­ret ganz auf die Bild­wir­kung. Kla­re Kon­tu­ren, leuch­ten­de Far­ben und gro­ße, aus­drucks­star­ke Figu­ren ziel­ten auf Fern­wir­kung und eine schnel­le Erfass­bar­keit – Gestal­tungs­prin­zi­pi­en, die auch im groß­städ­ti­schen Tru­bel Auf­merk­sam­keit erreg­ten und bald Schu­le machen soll­ten. Neben ver­sier­ten kunst­ge­werb­li­chen Entwerfer:innen wid­me­ten sich ab den 1890er Jah­ren Vertreter:innen der Avant­gar­de wie Hen­ri de Tou­lou­se-Lautrec dem Pla­kat, garan­tier­te es dem eige­nen Schaf­fen doch eine brei­te öffent­li­che Wahr­neh­mung. Durch mög­lichst ein­drück­li­che Ent­wür­fe und inno­va­ti­ve Gestal­tung ver­such­ten sie, mit ihren Arbei­ten aus der Viel­zahl von Wer­be­an­schlä­gen herauszustechen.

Dank des Pla­kats war Avant­gar­de­kunst nun nicht län­ger der gesell­schaft­li­chen Eli­te vor­be­hal­ten, son­dern wur­de in das All­tags­um­feld der städ­ti­schen Mas­sen­be­völ­ke­rung getra­gen. Die pla­ka­tier­ten Flä­chen im öffent­li­chen Raum gal­ten als Salon de la rue – „Gale­rie der Stra­ße“. So for­der­te die Künst­le­rin Maria Brinck­mann 1896:

„Jedem soll die Kunst zugän­gig sein, Jedem [sic] soll sie Erhe­bung und Freu­de gewäh­ren; nicht nur den­je­ni­gen, die ihre Wer­ke kau­fen kön­nen oder Zeit haben, sie in den Gal­le­rien [sic] auf­zu­su­chen. Um die­sen Zweck zu erfül­len, muss die Kunst auf die Stras­se [sic] gehen und wie von unge­fähr den Arbeits­weg der vie­len Tau­sen­de [sic] kreu­zen, wel­che ihr nicht Zeit noch Geld schen­ken kön­nen.“5

Mit der ange­streb­ten Demo­kra­ti­sie­rung der Kunst soll­te eine ästhe­ti­sche Erzie­hung der Bevöl­ke­rung ein­her­ge­hen, ihr Kunst­sinn geweckt und ihr Geschmacks­emp­fin­den geschult werden.

„Ver­stan­den von allen Alters­klas­sen, geliebt vom Volk, wen­det sich das Pla­kat an die See­le aller: Es ist gekom­men, neue Ansprü­che und die Lie­be zur Schön­heit zu befrie­di­gen, die die Geschmacks­er­zie­hung ohne Unter­lass for­dert und ent­wi­ckelt […]“6,

erklär­te ent­spre­chend Roger Marx 1897. In den Rang von Kunst­wer­ken erho­ben, wur­den Pla­ka­te Gegen­stand der Kunst­kri­tik; eige­ne Fach­zeit­schrif­ten bespra­chen aus­führ­lich das Schaf­fen der Gestalter:innen. Mit­te der 1880er Jah­re folg­ten ers­te Aus­stel­lun­gen, die spe­zi­ell dem Pla­kat gewid­met waren. Auch der Kunst­han­del fand hier ein lukra­ti­ves Feld: Hat­ten Sammler:innen anfangs Pla­kat­kle­ber bestechen müs­sen, damit die­se ihnen die Dru­cke über­lie­ßen, so wur­den bald zusätz­li­che Abzü­ge für den Ver­kauf gefer­tigt – teils als Son­der­edi­tio­nen ohne Beschrif­tung oder auf hoch­wer­ti­gem Papier. Man­che Gale­rien spe­zia­li­sier­ten sich sogar ganz auf Pla­kat­kunst. Die eigent­lich eph­eme­ren Wer­be­an­schlä­ge avan­cier­ten zu hoch­ge­schätz­ten Sam­mel­ob­jek­ten, die glei­cher­ma­ßen Ein­gang in pri­va­te Kol­lek­tio­nen wie in die Bestän­de von Muse­en fan­den und so die Zeit über­dau­er­ten. Sie geben nicht nur Ein­blick in die Ent­ste­hung von Wer­bung im heu­ti­gen Sin­ne, son­dern offen­ba­ren auch ein sich wan­deln­des Kunst­ver­ständ­nis an der Schwel­le zu Moderne.

  1. Roger Marx: L’affiche et les arts du décor (kün­fi­tig zitiert: Marx 1897), in: L’estampe et l’affiche , Bd. 1, Nr. 9/Nov. 1897, S. 222f., hier S. 223. (Übers. d. Autorin) ↩︎
  2. Vgl. Jane Abdy: The French Pos­ter. Ché­ret to Capiel­lo, Lon­don 1969, S. 14–20 (künf­tig zitiert: Abdy 1969); Bevis Hil­lier: Pla­ka­te, Ham­burg 1969, S. 49–51; Marie-Jean­ne Gey­er: L’affiche illus­trée, essor et engouement, in: Le salon de la rue. L’affiche illus­trée de 1890 à 1901, Ausst.-Kat. Musées de la Ville de Stras­bourg, Stras­bourg 2008, S. 17–22, hier S. 17f. ↩︎
  3. Vgl. Jür­gen Döring: Pla­kat­kunst von Tou­lou­se-Lautrec bis Benet­ton, Ausst.-Kat. Muse­um für Kunst und Gewer­be Ham­burg, Hei­del­berg 1994, S. 6f.; Jack Ren­nert: Pos­ters of the Bel­le Epo­que. The Wine Spec­ta­tor Coll­ec­tion, New York 1990 (künf­tig zitiert: Ren­nert 1990), o. S. ↩︎
  4. Vgl. Brad­ford Ray Coll­ins: Jules Ché­ret and the Nine­te­enth-Cen­tu­ry French Pos­ter, Diss. Yale Uni­ver­si­ty 1980, S. 112–119; Jür­gen Döring: Tou­lou­se-Lautrec und die Bel­le Épo­que, Ausst.-Kat. Muse­um für Kunst und Gewer­be Ham­burg, Mün­chen u. a. 2002, S. 54–59; Mar­ti­na Harms-Lücker­ath: Gale­rie der Stra­ße. Höhe­punk­te der Pla­kat­kunst von ihren Anfän­gen bis heu­te, Ausst.-Kat. Hes­si­sches Lan­des­mu­se­um Darm­stadt, Hei­del­berg 1998, S. 24–27. ↩︎
  5. Maria Brinck­mann: Nach­wort. In: Pla­kat­aus­stel­lung, Ausst.-Kat. Muse­um für Kunst und Gewer­be Ham­burg, Ham­burg 1896, S. 85–93, hier S. 92. ↩︎
  6. Marx 1897, S. 223. (Übers. d. Autorin) ↩︎
Bar­ba­ra Martin

Barbara Martin studierte Kunstgeschichte und Angewandte Kulturwissenschaft in Karlsruhe sowie Kuratorisches Wissen und Kunstpublizistik in Bochum. Sie promovierte 2014 zum Frauenbild im französischen Plakat des Fin de siècle. Nach einem Volontariat am Landesmuseum Hannover war Barbara Martin dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Weitere berufliche Stationen als Kuratorin umfassten die Galerie Stihl Waiblingen, die Städtischen Museen Heilbronn sowie das Kunstmuseum Bonn.