Zwi­schen Kunst und Kommerz

Von Künstler:innen und Druckereien

Im Juli 1866 eröff­ne­te Jules Ché­ret eine Dru­cke­rei in Paris, die mit neun aus Eng­land impor­tier­ten litho­gra­fi­schen Pres­sen aus­ge­stat­tet war. Der Sohn eines Dru­ckers war drei­ßig Jah­re alt und in ärm­li­chen Ver­hält­nis­sen auf­ge­wach­sen. Nach­dem er bei einem Litho­gra­fen in die Leh­re gegan­gen war, hat­te es ihn für sechs Jah­re nach Lon­don ver­schla­gen, wo er die fort­ge­schrit­te­ne eng­li­sche Tech­nik der Farb­li­tho­gra­fie kennenlernte.

Finan­ziert durch einen frü­he­ren Kun­den, kehr­te Ché­ret in sei­ne Geburts­stadt zurück und begann maß­geb­li­chen Ein­fluss auf die Farb­li­tho­gra­fie an sich und vor allem die Mög­lich­kei­ten des Wer­be­pla­kats zu neh­men. Um 1870 per­fek­tio­nier­te er den Ein­satz der Spritz­tech­nik („cra­chis“), mit­hil­fe derer er den litho­gra­fi­schen Far­ben­druck enorm ver­ein­fach­te. Er druck­te in der Regel von drei Stei­nen mit den Grund­far­ben Rot, Gelb und Blau. Sei­ne Pla­ka­te, voll von far­ben­sprü­hen­der, unbe­schwer­ter Fröh­lich­keit, setz­ten neue Maß­stä­be in Qua­li­tät und Stil und wer­den als der Beginn des moder­nen Pla­kats ange­se­hen.1

In Paris gab es zu die­sem Zeit­punkt bereits ein flo­rie­ren­des Druck­ge­wer­be. Allein zwi­schen 1830 und 1840 war die Zahl der offi­zi­ell regis­trier­ten litho­gra­fi­schen Dru­cke­rei­en von 36 auf 96 gestie­gen und das Wachs­tum setz­te sich in ver­gleich­ba­rem Maß fort.2 Mit dem Fin de Siè­cle brach ab 1880 end­gül­tig die gol­de­ne Zeit der fran­zö­si­schen Druck­gra­fik an. In der kos­mo­po­li­ti­schen Haupt­stadt expe­ri­men­tier­te die Avantgarde.

Die gro­ßen Plakatmaler:innen von Hen­ri de Tou­lou­se-Lautrec bis Alfons Mucha ver­stan­den sich als Künstler:innen und hiel­ten ihre Pla­ka­te genau­so für Kunst wie ihre ande­ren Wer­ke. Gegen Ende der 1890er-Jah­re gin­gen sie zuneh­mend Ver­trä­ge mit Dru­cke­rei­en ein und erhiel­ten dafür regel­mä­ßig Auf­trä­ge. In den Dru­cke­rei­en waren seit jeher Zeichner:innen ange­stellt gewe­sen, nun kamen aka­de­misch geschul­te Maler:innen hin­zu.3 Es waren fast aus­schließ­lich Män­ner, da Frau­en von den staat­li­chen Kunst­aka­de­mien und Uni­ver­si­tä­ten weit­ge­hend aus­ge­schlos­sen wur­den. Die Frau­en, die es sich leis­ten konn­te, lie­ßen sich pri­vat aus­bil­den, wie etwa Cle­men­ti­ne Hélè­ne Duf­au, die 1896 ihren ers­ten Auf­trag für ein Wer­be­pla­kat erhielt („Bal des Incr­e­v­a­bles“ im Casi­no de Paris).

Für jun­ge Künstler:innen boten Wer­be­pla­ka­te eine Mög­lich­keit, Geld zu ver­die­nen. Wäh­rend man­che nur gele­gent­lich ent­spre­chen­de Auf­trä­ge annah­men, ver­schrie­ben sich ande­re dem neu­en Medi­um kom­plett. An die Pro­duk­ti­vi­tät des Jules Ché­ret, der in 40 Jah­ren 1200 Pla­ka­te ent­wor­fen haben soll, reich­te aber nie­mand her­an.4 Das pres­ti­ge­träch­tigs­te Team hat­te der Litho­graf, Ver­le­ger und Dru­cker Vic­tor Camis zusam­men­ge­stellt. Bei ihm arbei­te­ten Fir­min Bouis­set, Hen­ri Gray, Albert Gau­il­laume und Fran­cis­co Nico­las Tama­g­no. Letz­te­rer war nach sei­nem Stu­di­um in Turin und Rom nach Paris gekom­men und ent­warf bei Camis etwa 100 Pla­ka­te für Fir­men wie Lie­big, Peu­geot und Ter­rot.5

Farbplakat zur „Exposition du Centenaire de la Lithographie“: Eine halbnackte Frau in gelbem Tuch sitzt vor einer Staffelei mit einem Porträt. Ausstellung in der Galerie Rapp–Champ de Mars.

Jean de Paléo­lo­gue (PAL) gehör­te zu den pro­fi­lier­tes­ten Pla­kat­künst­lern. In sei­nem Pla­kat für die Aus­stel­lung im Jahr 1895 zum (bei­na­he) hun­dert­jäh­ri­gen Bestehen der Litho­gra­fie in der Gale­rie Rapp insze­nier­te er den litho­gra­fi­schen Druck­pro­zess selbst. Wie für ihn typisch mit­hil­fe einer bar­bu­si­gen Mari­an­ne vor einem abs­tra­hier­ten Hin­ter­grund in den Far­ben der fran­zö­si­schen Tri­ko­lo­re. Musée Car­na­va­let, His­toire de Paris, AFF1632

Wer­be­pla­kat in eige­ner Sache. Die Dru­cke­rei Camis stell­te sich hier als Indus­trie­un­ter­neh­men mit den größ­ten Maschi­nen der Welt dar. Das bemer­kens­wer­te Pla­kat zeigt nicht nur die bei Camis ange­stell­ten Pla­kat­ge­stal­ter Albert Guil­laume, Fran­cis­co Tama­g­no oder Fir­min Bouis­set mit eini­gen ihrer erfolg­reichs­ten Kam­pa­gnen (Cho­co­lat Meu­nier, Grog Dupit etc.), son­dern auch die Dar­stel­lung einer moder­nen Rota­ti­ons­pres­se. Musée Car­na­va­let, His­toire de Paris, AFF1351

Buntes Jugendstil-Werbeplakat „Imprimerie Camis“ (Paris, 172, Quai de Jemmapes) mit einer Frau in Blumenrock, umgeben von zahlreichen Werbemotiven und großen Schriftzügen in Blau und Gold.

Die erfolg­rei­chen Plakatgestalter:innen zeich­ne­ten sich oft durch einen indi­vi­du­el­len Stil aus, für den sie gezielt beauf­tragt wur­den. Händler:innen und Galerist:innen sorg­ten für die Popu­la­ri­sie­rung die­ser Per­so­nen, die sie oft selbst idea­li­sier­ten. Vie­le Künstler:innen waren sich der Mög­lich­kei­ten ihrer eige­nen Kom­mer­zia­li­sie­rung sehr bewusst. So ist bei­spiels­wei­se von Alex­and­re Thé­o­phi­le Stein­len bekannt, dass er für einen Pla­ka­t­ent­wurf als Hono­rar zwei Druck­stei­ne und 200 Pla­ka­te ver­lang­te, mit denen er eine limi­tier­te Pro­duk­ti­on für pri­va­te Sammler:innen sicher­stel­len konn­te.6 Wem es gelun­gen war, sich einen Namen zu machen, dem wur­de auch ein grö­ße­res Inter­es­se von Zeit­schrif­ten ent­ge­gen­ge­bracht, die Samm­ler­edi­tio­nen ver­leg­ten. So bot „La Plu­me“ bei­spiels­wei­se Hen­ri de Tou­lou­se-Lautrec 200 Francs an, um des­sen „The Chap Book“-Plakat im Folio For­mat her­aus­brin­gen zu dür­fen. Eine wei­te­re Ein­nah­me­mög­lich­keit und die Chan­ce auf Renom­mé boten die zahl­rei­chen Pla­kat­wett­be­wer­be, die von unter­schied­li­chen Fir­men, wie bei­spiels­wei­se der Ape­ri­tif­mar­ke „Byrrh“ aus­ge­lobt wur­den. Den Gewin­nern wink­ten teils sagen­haf­te Preis­gel­der von 6000 – 12000 Gold Francs.

Doch die meis­ten Plakatgestalter:innen gelang­ten weder zu per­sön­li­cher Bekannt­heit noch zu einem grö­ße­ren Ver­mö­gen. Sie arbei­te­ten für Dru­cke­rei­en wie Lemer­cier, Kos­suth, Ver­cas­son, Appel oder Gali­ce in Paris. Auf den ste­tig wei­ter­ent­wi­ckel­ten Pres­sen wur­den dort Auf­la­gen von 500 bis 10.000 Exem­pla­ren gedruckt, wobei mög­li­che Re-Prints nicht mit­ein­ge­schlos­sen sind.7 Die Dru­cke­rei­en waren mitt­ler­wei­le auch als Wer­be­agen­tu­ren tätig. Immer mehr Gewer­be­schu­len tra­ten an die Stel­le der Kunst­aka­de­mien und bil­de­ten eine neue Gene­ra­ti­on von Gebrauchsgrafiker:innen aus. Mit Beginn des 20. Jahr­hun­derts war aus dem Pla­kat als moder­ner Kunst­form eine pro­fes­sio­nell und öko­no­misch aus­ge­rich­te­te Bran­che geworden.

  1. Döring, Jür­gen: Das Pla­kat – 200 Jah­re Kunst und Geschich­te, Ausst.-Kat. Muse­um für Kunst und Gewer­be Ham­burg, Pres­tel Mün­chen; Lon­don; New York 2020, S. 64. ↩︎
  2. Givis­kos, Chris­ti­ne: Set in stone – litho­gra­phy in Paris, 1815–1900, Hirm­er, Mün­chen 2018, S. 49. ↩︎
  3. Döring, Jür­gen: Das Pla­kat, S. 122. ↩︎
  4. Wem­ber, Paul: Die Jugend der Pla­ka­te 1887 — 1917, Scher­pe Ver­lag, Kre­feld 1961, S. 11. ↩︎
  5. Weill, Alain: The Art Nou­veau Pos­ter, Fran­cis Lin­coln Limi­t­ed Publishers, Lon­don 2015, S. 146. ↩︎
  6. Kae­nel, Phil­ip­pe und Lep­dor, Cathe­ri­ne: Stein­len – l’oeil de la rue, Ausst.-Kat. Musée can­to­nal des beaux-arts Lau­sanne, Lau­sanne 2008, S. 62. ↩︎
  7. Weill, Alain: The Art Nou­veau Pos­ter, S. 32. ↩︎
Tobi­as Baldus

Tobias Baldus ist Co-Kurator der Ausstellung „Freiheit auf zwei Rädern – Das Fahrrad auf französischen Plakaten um 1900“. Er ist bei einem Berliner Auktionshaus tätig und schreibt nebenbei für verschiedene Publikationen, insbesondere zu reklame- und verkehrsgeschichtlichen Themen.