Das Fahrrad auf französischen Plakaten um 1900
40 französische Fahrradplakate aus der Sammlung des Historischen Archivs des Deutschen Technikmuseums: Die großformatigen Lithografien entstanden zwischen 1890 und 1910. Zu dieser Zeit war das Fahrrad in seiner bis heute geläufigen Form als Sicherheitsniederrad ein alltagstaugliches, modernes Verkehrsmittel geworden und ging mit dem Plakat als neuem Werbemedium eine kreative Symbiose ein.

Lithografie, 1889
Affiches Artistique P. Vercasson, Paris
Francisco Tamagno (1851-1933)
Im Frankreich der Belle Époque versprach das Fahrrad ein Lebensgefühl von Freiheit, Unabhängigkeit und Modernität und als solches wurde es mit dem damals modernsten Reklamemittel großflächig beworben: dem Plakat. Diese großformatigen Werbelithografien galten schnell nach ihrem Aufkommen als außergewöhnliche Kunstwerke. Heute bieten sie uns einzigartige Einblicke in das damalige Verständnis von Technik und Kultur. Besonders Frauen standen um 1900 im Mittelpunkt der Werbung – und das auf ganz unterschiedliche Weise. Die Plakate spiegeln die gesellschaftlichen Ideale und Weltbilder um 1900 wider und zeigen ein zeittypisches Spektrum von Geschlechterrollen, Technik und Kultur.

Peugeot
Lithografie, 1906
Imp. G. Elleaume, Paris
Walter Thor (1870-1929)
Eine Spazierfahrt im Grünen: Flächig-reduziert setzt Walter Thor eine Parklandschaft mit einer Tempelarchitektur ins Bild. Der gewundene Weg suggeriert räumliche Tiefe. Nach der damaligen Mode bekleidet mit langem schwarzem Rock, einer weißen Bluse mit sogenannten Hammelkeulenärmeln und einem kecken roten Hut, erscheint die Radfahrerin in vollendeter Eleganz. Die wirbelnd-verschwimmenden Speichen deuten die Rasanz der Fahrt an. Begleitet wird die Werbedame von freilaufenden weißen Hunden, die den Eindruck von Dynamik und Ungebundenheit noch verstärken.
Der Deutsche Walther Thor gehörte zum Künstler:innenkreis um die Münchner Zeitschrift Jugend, die dem Jugendstil seinen Namen verlieh.
Cycles Humber
Lithografie, circa 1900
Imp. Caby & Chardin, Paris
Henriette Bressler
Vor einem tiefblauen Sternenhimmel stützt Henriette Bresslers Werbefigur verträumt das Kinn in die Hände. Die Ellbogen ruhen auf dem Fahrradlenker, der von ihren überlangen, ornamental stilisierten Locken effektvoll hinterfangen wird. Die Frisur und das schlichte weiße Kleid erscheinen zeitlos. Passiv und introvertiert, entspricht die Dargestellte ganz überkommenen Idealvorstellungen von Weiblichkeit. Dynamik, Fahrvergnügen wie auch das fortschrittlich-emanzipatorische Moment, das zahlreiche andere Fahrradplakate der Zeit kennzeichnet, werden gänzlich ausgeblendet. Hernriette Bressler gehörte zu den wenigen Plakatkünstlerinnen. Über ihre Biografie ist nichts bekannt. Das Plakat für Cycles Humber wurde bei Caby & Chardin produziert, einer der führenden Druckereien in Paris.


Hurtu Diligeon & Cie.
Lithografie, 1895
Imp. Lemercier, Paris
Anonym
Idealtypisch zeigt sich hier plakative Reduktion: Die schwarz-roten Buchstaben des Markennamens heben sich ebenso markant vom flächigen gelben Hintergrund ab wie die schwarz gekleidete Werbefigur. Ihre modische Silhouette erscheint bis zur Karikatur überzeichnet; die unnatürlich schmale Wespentaille kontrastiert mit dem ausladenden Rock und den voluminösen Ärmeln. Auf einem nur angedeuteten Weg kommt die Dargestellte den Betrachter:innen in schneller Fahrt entgegen, die bis zur Unkenntlichkeit verschwimmenden Speichen des Vorderrads unterstreichen den Eindruck von Geschwindigkeit. Dieses Plakat war mehrere Jahre sehr verbreitet; 1896 wurde es in Reims auf der größten Plakatausstellung der Zeit gezeigt – zusammen mit 1690 anderen Werken. Wer das Motiv entwarf, ist jedoch nicht überliefert.

Lithografie, 1898
Imp. Caby & Chardin, Paris
PAL (Jean de Paléologue, 1860-1942)

Lithografie, circa 1898
Affiches Artistiques Chardin, Paris
PAL (Jean de Paléologue, 1860-1942)

Lithografie, circa 1899
Imp. Caby & Chardin, Paris
PAL (Jean de Paléologue, 1860-1942)
PALs Plakat für die Pariser Fahrradmarke Cycles Clément ist inspiriert von der Antike: Gleich der berühmten Statue der Nike von Samothrake stürmt die Werbefigur den Betrachter:innen entgegen. An den Füßen trägt sie die Flügelsandalen des Gottes Hermes, auf dem Kopf den gallischen Hahn – eine Anspielung auf die Herstellung des beworbenen Rads in Frankreich. Hoch über den Dächern von Paris schwebend, hält sie ein Fahrrad in der Luft und reckt in einer Siegesgeste zugleich einen Lorbeerkranz in die Höhe.
Für den heutigen Betrachter:innen mag PALs Bildfindung unfreiwillig komisch wirken; die Zeitgenoss:innen dagegen begrüßten derartige Überhöhungen der Werbebotschaft durch den Rückgriff auf Kunsttraditionen.
2.
Niemand entwarf mehr Fahrradplakate als der gebürtige Rumäne Jean de Paléologue. 1893 zog der Künstler nach Paris, wo er tausende Illustrationen und über 100 Plakate schuf. Charakteristisch für sein Schaffen ist der Rückgriff auf allegorische und historisierende Motive – so auch im Motiv des Ritters mit Schwert und Schild. Offenbar dank seines Fahrrads triumphiert er über Unmengen zerstörter anderer Räder, die sich um ihn häufen, und blickt versonnen zu einer Burg im Hintergrund. Im Jahr 1900 emigrierte PAL nach New York und arbeitete fortan für Magazine und Zeitungen wie Vanity Fair und The New York Herald Tribune.
3.
In Harnisch und Helm, mit Schwert und Schild lässt PALs Werbefigur für Liberator Cycles & Automobiles an eine Walküre denken. Gemäß dem Markennamen wird sie als heroische Kämpferin für die Freiheit inszeniert und deutet zugleich die Robustheit des beworbenen Rades an. Ihre Rüstung ist eine freie Erfindung des Künstlers: Der geflügelte, dornenbewehrte Helm wirkt martialisch, während die Körperpanzerung eher weibliche Reize betont als tatsächlich zu schützen – das Kettenhemd ist zum kurzen Rock umgestaltet, die Brust bleibt gänzlich unbedeckt. Die werbewirksame Entblößung erscheint durch die motivische Anlehnung an Historisches legitimiert.

Cycles & Accessoires Griffiths
Lithografie, 1898
Imp. J. Barreau, Paris
Henri Thiriet (1873-1946)
Das Plakat zeigt eine junge Frau in müheloser, flotter Fahrt – auch wenn vom Fahrrad kaum mehr als der von weißen Rosen umrankte Lenker zu sehen ist. Im Vordergrund sitzt eine deutlich vom Alter gezeichnete Frau inmitten eines Dornengestrüpps am Boden. An ihrer Schulter lehnt ein Krückstock, der ihre eingeschränkte Beweglichkeit verdeutlicht. Das Kinn in die Hand gestützt, betrachtet sie wehmütig die schwungvolle Vitalität der Radfahrerin. Der plakative Kontrast unterstreicht das Werbeversprechen jugendlicher Dynamik und Mobilität. Henri Thiriet gestaltete zahlreiche Fahrradplakate. Ganz im Zeichen des Art Nouveau setzte er dabei auf eine elegant geschwungene Linienführung – sei es in den stilisierten langen Locken der Radfahrerin, den üppig drapierten Gewandfalten oder floralen Elementen.

Clément
Lithografie, circa 1900
Imp. Bourgerie & Cie., Paris
Arthur Foäche (1871-1967)
Für die Fahrradmarke Clément gestaltete Arthur Foäche eine Frauenfigur in Anlehnung an die Antike: Ein weich fließendes, lockeres Gewand umhüllt den Körper, bedeckt jedoch kaum die Brust. Als traditionelles Siegessymbol krönt ein Lorbeerkranz den Kopf der Dargestellten; im Arm hält sie einen ausladenden Zweig. Das beworbene Rad rückt dagegen motivisch aus dem Fokus. Es wird als ausgesparter Umriss im Papierton wiedergegeben und auf beiden Seiten vom Bildrand überschnitten. Umso farbintensiver ist die Landschaft im Hintergrund gestaltet. Die Wiese, Bäume und der von gelben Wolken durchzogene rote Himmel erscheinen in der ornamentalen Stilisierung des Art Nouveau. Dicht gebündelte, schwingende Linien überlagern die flächig-reduzierten Motive, die so regelrecht zu vibrieren scheinen.
Clément
Lithografie, 1896
Imp. J. Kossuth & Cie., Paris
Lucien Baylac (1851-1913)
Erwartungsvoll hebt eine modisch in Pumphosen und taillierte Jacke gekleidete Radlerin ihr Fahrrad in die Höhe. Ein weiblicher, geflügelter Genius in antikischer Draperie schwebt ihr entgegen und krönt das Rad mit einem goldenen Lorbeerkranz als Zeichen von Sieg und Ehre.
Lucien Baylacs Figuren verbinden den Rückgriff auf die Kunsttradition mit der modernen Lebenswelt: Während der Genius der Realität gänzlich entrückt ist, erscheint die Hosen tragende Radfahrerin als fortschrittlich-emanzipierte Frau. Indem sie offenbar mühelos ihr Rad anhebt, wird ganz nebenbei dessen leichte Handhabbarkeit herausgestellt.

Phébus
Lithografie, circa 1897
Affiches Camis, Paris
Francisco Tamagno (1851-1933)
In Anspielung auf den Markennamen Phébus zeigt Francisco Tamgano den griechischen Gott Phöbus Apollon: Den Sonnenwagen, den er der Sage nach über das Firmament lenkt, hat Apoll hinter sich gelassen, um auf das beworbene Fahrrad umzusteigen. Mit der Rechten reckt er einen Lorbeerkranz als Siegeszeichen in die Höhe. Effektvoll hinterfängt die strahlende Sonne die Göttergestalt inmitten sich auftürmender Wolken. Im Rückgriff auf die antike Mythologie erscheint die profane Werbebotschaft überhöht.
Tamagno war gebürtiger Italiener, über seine Biografie ist wenig bekannt. Nach Paris übersiedelte er, um an der École des Beaux-Arts zu studieren, und machte sich dort im Folgenden als Plakatgestalter einen Namen.


Bicyclette Hallot
Lithografie, circa 1900
Publicité Wall, Paris
Raoul Vion
Das Hallot-Rad habe immer alle Hänge bezwungen, verspricht der Werbetext neben dem detailliert ganz in Weiß wiedergegebenen Fahrrad. Dahinter heben sich zwei zu bläulichen Schattenrissen reduzierte Pyramiden effektvoll vom leuchtend gelben Grund ab. Auf der Spitze der vorderen ist die Silhouette des französischen Kaisers Napoleon I. (1769–1821) erkennbar, der ein weiteres Fahrrad hält. Der motivische Anachronismus – zu Lebzeiten Napoleons gab es noch keine Fahrräder in der hier gezeigten Form – ist als humoristische Anspielung auf den desaströsen Ägypten-Feldzug des berühmten Militärs zu verstehen: Mit einem Hallot-Rad wäre Napoleon erfolgreich und selbst die Pyramiden kein Hindernis gewesen, so die Botschaft.

Cycles Peugeot
Lithografie, circa 1904
Imp. Lemercier, Paris
Ernest Vulliemin (1862-1902)
Kaum ein Fahrradplakat war so verbreitet wie Ernest Vulliemins Entwurf für Cycles Peugeot: Ein Kürrasier hoch zu Ross erhält eine Nachricht von einem ebenfalls uniformierten Fahrradboten. Die militärische Szene verweist auf die Zuverlässigkeit und Qualität von Peugeot-Fahrrädern. Tatsächlich wurden vor allem in Frankreich Militärradfahrer als Boten und Späher eingesetzt.
Cycles Carmen
Lithografie, circa 1900
Imp. Paul Dupont, Paris
Maurice Marodon
In Anspielung auf den Markennamen greift Maurice Marodons Plakat die Hauptfiguren aus Prosper Mérimées 1845 erschienenem Roman Carmen auf: Der zum Radfahrer gewandelte Stierkämpfer Escamillo grüßt Carmen, die vom Balkon herabblickt. Mérimées Roman löste in Frankreich eine Welle der Begeisterung für alles Spanische aus. Der Autor prägte das Bild der spanischen Roma als leidenschaftliche „Gitanos“, die Freiheit und Ungebundenheit verkörpern. Carmen inspirierte nicht nur die Fahrradwerbung, sondern auch Georges Bizets gleichnamige Oper.
Am unteren Rand des Plakats verweist der Zusatz „Affiche d‘Intérieur“ darauf, dass es für Innenräume bestimmt war. Die eigene Wohnung mit Plakaten zu dekorieren, war en vogue.


Automobiles et Cycles Clément
Lithografie, 1903
Imp. Minot, Paris
Albert Guillaume (1873-1942)
Mit einer effektvoll beleuchteten Nachtszene bewirbt Albert Guillaume Fahrräder und Automobile des Pariser Herstellers Clément: In Rückenansicht sind zwei Frauen in schlichten grauen Röcken und weißen Blusen zu sehen; neben ihren Fahrrädern halten sie Papierlaternen. Weiter hinten hat ein männlicher Fahrer sein Auto gestoppt. Sie alle betrachten ein Feuerwerk im Mittelgrund. Rechts ist die Seine sowie in der Ferne das nächtlich erleuchtete Paris mit dem Eiffelturm zu sehen. Das Plakat wirbt so nicht mit dem Versprechen von Mobilität und Fahrvergnügen, sondern setzt die beworbene Marke in assoziativen Bezug zu den Attraktionen des modernen Großstadtlebens. Albert Guillaume war nicht nur als Plakatkünstler tätig, sondern auch einer der bekanntesten Karikaturisten seiner Zeit.

Rambler Cycles G. & J.
Lithografie, circa 1900
Imp. Kossuth & Cie., Paris
Anonym
Die beschwingte Radfahrerin scheint in farbiges, von unten kommendes Licht getaucht, das sie effektvoll vom schwarzem Grund abhebt. Dramatisch anmutende Schatten akzentuieren die Figur zusätzlich. Die ungewöhnliche Beleuchtung wie auch die sich üppig bauschende Draperie, welche die Figur umhüllt, lassen an die Auftritte der amerikanischen Tänzerin Loïe Fuller denken. Ab den 1890er Jahren feierte Fuller mit ihrem „Serpentinentanz“ Erfolge: Sie verhüllte ihren Körper mit meterlangen Stoffbahnen, die sie mittels eingearbeiteter Bambusstäbe in Bewegung versetzte. Die schwingenden Stoffmassen wurden mit wechselnder farbiger Beleuchtung effektvoll inszeniert. Das Fahrradplakat macht sich Fullers Popularität zunutze, warb die Tänzerin doch mit ganz ähnlichen Darstellungen für ihre Auftritte.
Cycles Griffon
Lithografie, circa 1900
Imp. G. Elleaume, Paris
Signiert: L. d‘H
Das Plakat, dessen Urheberschaft bisher ungeklärt ist, zeigt in Anspielung auf den Markennamen einen imposanten Greif vor einer hell strahlenden Sonne. In einem separaten Bildfeld ist eine Frau auf ihrem Rad zu sehen, die den Betrachter:innen in rasanter Fahrt entgegenkommt. Weiter hinten hat ein männlicher Radfahrer angehalten und blickt ihr nach. Nicht nur ihn, sogar ein Automobil hat die schnelle Radlerin hinter sich gelassen. Eine Werbetafel links am Wegesrand gibt noch einmal den Markennamen wieder.
Die Darstellung kombiniert so nicht nur eine zeitgenössische Szene mit der allegorisch-mythologischen Figur des Greifs, sondern thematisiert in einer für den heutigen Blick befremdlichen Doppelung noch einmal die Markenwerbung selbst.


Lithografie, circa 1897
Druckerei nicht bekannt
Manuel Robbe (1872-1936)

Lithografie, circa 1897
Sté. Parisienne d‘Impressions, Paris
Manuel Robbe (1872-1936)



Lithografie, circa 1897
Imp. J. Kossuth & Cie., Paris
Charles Tichon (1865-1924)Charles Tichons Werbefigur für Cycles Rochet entspricht ganz der traditionellen Vorstellung von weiblicher Schönheit und Eleganz. Zum Radfahren ist ihre modische Garderobe mit Korsett und bodenlangem Kleid jedoch denkbar ungeeignet. Das extrem gestreckte Hochformat hatte der wegweisende Plakatgestalter Jules Chéret eingeführt. Indem außergewöhnliche Formate mehrfach nebeneinander plakatiert wurden, versuchte man die Wahrnehmung des Werbemotivs zu steigern.

Cycles Clément
Lithografie, circa 1895
Bourgerie & Cie., Paris
Misti (Ferdinand Mifliez, 1865-1923)
Mistis Plakat für Cycles Clément lebt ganz von der eindrücklich inszenierten Beleuchtungssituation: Vor dem tiefblauen Nachthimmel ist rechts oben im Geäst eines Baums ein in warmem Orange strahlender Lampion mit dem Markennamen zu sehen. Eine weibliche Werbefigur in eleganter Garderobe weist mit ausgestrecktem Finger auf ihn. Sie erscheint als bläulich verschattete Silhouette, deren Kontur vom Lichtschein effektvoll akzentuiert wird. Vom Bildrand überschnitten, wird das Fahrrad dagegen zur Nebensache – nur Lenker, Sattel und Querstange sind auszumachen.

Lithografie, 1898
Imp. P. Vercasson & Cie., Paris
Francisco Tamagno (1851-1933)

Lithografie, 1889
Affiches Artistique P. Vercasson, Paris
Francisco Tamagno (1851-1933)

Pneu Michelin
Lithografie, 1895
Imp. Moderne M. de Brunoff & Cie., Paris
Anonym
1891 entwickelte Michelin einen Luftreifen, der erstmals abnehmbar war und das Fahrrad alltagstauglich machte. Dieser Reifen sei der einzige, der auf das Rad der Fortuna passe, so die Plakatinschrift. Auf einem geflügelten Reifen strebt die römische Schicksalsgöttin souverän den Betrachter:innen entgegen, ein Palmblatt als Siegessymbol in der Rechten. Sie wird mit einer Frauenfigur im Hintergrund kontrastiert, die augenscheinlich den falschen Reifen gewählt hat und verunfallt ist. Das Plakat schöpft aus zwei verschiedenen Bildtraditionen: Um die Unbeständigkeit des Glücks anzudeuten, wurde Fortuna häufig auf einer Kugel balancierend gezeigt. Das ihr beigegebene Schicksalsrad diente dagegen nicht der Fortbewegung. Der Michelin-Reifen ersetzt hier beide Motive, er scheint das Glück zu sichern.

Phébus
Lithografie, circa 1898
Papiers-Monnaie, Paris
Henri Gray (Henri Boulanger, 1858-1924)
In dynamischem Sturzflug strebt eine geflügelte Nackte einem einzelnen Rad der beworbenen Marke entgegen. Figur und Rad sind plastisch ausgearbeitet und souverän in perspektivischer Verkürzung vor tiefschwarzem Grund wiedergegeben. Geometrisch-stilisierte Lichtstrahlen mögen auf Phöbus Apollon verweisen, den griechischen Gott des Lichts, dem die beworbene Marke ihren Namen verdankt.
Wie hier setzte Henri Gray immer wieder auf die sinnlichen Reize weiblicher Aktfiguren, um Aufmerksamkeit für die Werbebotschaft zu generieren. Stets als fliegende Genien vor neutralem Grund dargestellt, waren die Figuren der Lebensrealität so weit entrückt, dass die freizügigen Darstellungen von den Zeitgenoss:innen toleriert wurden.
Cycles Clément Motocycles
Lithografie, circa 1898
Imp. Paul Dupont, Paris
PAL (Jean de Paléologue, 1860-1942)
Stolz wirbt der Hersteller Clément mit der „größten Fabrik der Welt“; rechts im Bild erstreckt sich der imposante weitläufige Werkkomplex. Während so der technische Fortschritt herausgestellt wird, schöpft die allegorische Frauenfigur rechts aus überkommenen Darstellungstraditionen: Ihr offenherziges Gewand, das die nackten Brüste sehen lässt, mutet antikisch an. Auf dem Kopf trägt sie einen Lorbeerkranz als Siegeszeichen. Hammer und Amboss versinnbildlichen die handwerkliche Qualität der Fahrradherstellung – ein offensichtlicher Anachronismus, wird doch mit der Fabrik zugleich auf die industrielle Produktion verwiesen.

Rudge
Lithografie, circa 1895
Imp. F. Appel, Paris
Misti (Ferdinand Mifliez, 1865-1923)
Mistis Plakat für Rudge-Fahhräder thematisiert weniger das beworbene Produkt als vielmehr die Werbung selbst: Auf einer Bühne preist ein Verkäufer das nagelneue, noch im Transportrahmen steckende Rad an. Hinter ihm sind zahlreiche Rudge-Plakate angeschlagen. Aus den dunkel verschatteten Silhouetten des Publikums stechen zwei wohlhabende Damen heraus, die augenscheinlich angetan sind. Stilsicher und modisch ausstaffiert, dienen sie als Blickfang sowie Identifikationsfiguren für potentielle Kundinnen – auch wenn die Lebensrealität der meisten Frauen kaum entsprechende Investitionen zuließ. Dass Werbung wiederum eine Werbesituation zeigt, war um 1900 kein seltenes Phänomen. Deutlich tritt darin die Suche nach geeigneten Bildstrategien für das noch junge Medium Plakat zutage.


Voila! La Selle Christy
Lithografie, 1897
Hickson Ward & Co., London
Jacques Faria (1898-1956)
Einen bequemen Sattel herzustellen, war erstaunlich lange ein Problem. Viele Varianten sollten Gesäßschmerzen entgegenwirken. Zudem schlugen selbst ernannte Sittenwächter:innen Alarm. Sie vermuteten, dass Frauen auf den herkömmlichen schmalen Satteln permanent stimuliert würden. Die flache Konstruktion des Christy-Sattels, als „anatomisch und hygienisch“ beworben, sollte das „alte unhygienische und schädliche System“ ablösen.

Rambler Cycles
Lithografie, 1901
Imp. Chaix, Paris
Joan Cardona Lladós (1877-1958)
Erst auf den zweiten Blick lässt das Plakatmotiv erkennen, welches Produkt hier beworben wird: Nur der Lenker des Fahrrads ist am unteren Bildrand sichtbar. Im Fokus steht vielmehr die weibliche Werbefigur, die einen Lorbeerzweig als Siegeszeichen präsentiert. Ganz im Zeichen des Art Nouveau, der französischen Ausprägung des Jugendstils, trägt sie üppigen Blumenschmuck im hochgesteckten Haar und ein locker drapiertes Gewand mit kunstvollen Ornamenten. Bei näherer Betrachtung geben sich die Rundformen auf ihrer Stola als kleine Speichenräder zu erkennen. Die Werbebotschaft scheint so in dekorativer Stilisierung verschlüsselt – eine damals gängige Strategie, um die Einprägsamkeit zu steigern: Einmal enträtselt, sollte der Inhalt umso stärker im Gedächtnis bleiben.
Der gebürtige Spanier Joan Cardona Lladós lebte von 1900 bis 1914 in Paris, wo er sich als Illustrator einen Namen machte.
Cycles Rudge
Lithografie, 1897
Caby & Chardin, Paris
Jacques Debut
Als geradezu überirdische Erscheinung inszeniert Jaqcues Debut die Präsentation des Rudge-Fahrrads: Auf einer Waldlichtung steht eine von hellem Licht umstrahlte weibliche Figur. Lange blonde Locken umspielen die Gestalt, ihr Gewand mutet in seinem locker drapierten Faltenwurf antikisch an und betont zugleich mit Goldapplikationen ihre weiblichen Reize. Mit verträumt gesenktem Blick hebt sie – offenbar mühelos – das beworbene Fahrrad. Im Vordergrund hat sich ein Mann im Gebüsch verborgen und bestaunt das Geschehen. Mit kariertem Sakko, Mütze und Handschuhen ist er bereits für einen Fahrradausflug gekleidet. Durch die zeitgenössische Figur erscheint die damals so beliebte Verklärung der an sich banalen Werbebotschaft ironisch gebrochen.


Acatène Métropole
Lithografie, circa 1898
Affiches Kossuth, Paris
Charles Tichon (1865-1924)
Als Japan in den 1850er Jahren auf Druck westlicher Kolonialmächte seine jahrhundertelange Isolation aufgab, löste die Begegnung mit der fernöstlichen Kultur in Europa eine Welle der Begeisterung aus. Viele Plakatkünstler:innen orientierten sich gestalterisch an japanischen Farbholzschnitten. Charles Tichons Werbefigur mit Kimono und Fächer steht ganz im Zeichen des Japonismus. Derartige Werbemotive waren eher selten: Bei allem Reiz des Exotischen boten die Figuren für europäische Käufer:innen kaum Identifikationspotential. Als „Acatène“ bezeichnete man in Frankreich die kettenlose Kraftübertragung, die in den 1890erJahren populär wurde. Métropole war der erste Großserienhersteller solcher Fahrräder.
Pneumatiques A. Soly
Lithografie, circa 1900
Imp. Camis, Paris
Pierre Bonnaud (1865-1930)
Für Luftreifen der Marke A. Soly wirbt Pierre Bonnaud mit einer kecken Radlerin in flotter Fahrt. Die Geschwindigkeit lässt die Speichen der Räder verschwimmen und ihren langen Rock hochrutschen, sodass die dunklen Strümpfe und die nackten Knie sichtbar werden – ein überaus pikantes Detail, verhüllte die damalige Mode doch das weibliche Bein üblicherweise gänzlich, sodass schon ein entblößter Knöchel als höchst erotischer Anblick galt.
Das helle, modische Kleid mit schmaler Taille und voluminösen Hammelkeulenärmeln sticht vor dem buntfleckigen Hintergrund deutlich heraus. Die Krawatte, hier in auffälligem Rot, war damals ein typisches Accessoire für Radfahrerinnen.


Lithografie, circa 1890
Imp. H. Laas, Paris
A. Bonnard

Lithografie, [ohne Jahr]
A. Guyonnet, Bordeaux
A. Guyonnet
Eine Braut auf der Flucht: Augenscheinlich in letzter Minute fährt die junge Frau der konsternierten Hochzeitgesellschaft im Hintergrund auf dem Rad davon; lächelnd lässt sie alle Konventionen hinter sich. In Anspielung auf den Markennamen Papillon umschwirren Schmetterlinge die Dargestellte. Vergeblich versuchen rechts im Bild einige Kinder, sie mit Netzen zu fangen. Das Plakat wirbt so mit dem Versprechen von Freiheit und Ungebundenheit. Obgleich humoristisch aufgefasst, lässt die Darstellung doch auch das emanzipatorische Moment anklingen, das der gesteigerten Mobilität der Fahrradfahrerinnen innewohnte.
2.
Selbstbewusst und resolut präsentiert sich die Radfahrerin im Plakat für Bonnaud & Cie. Souverän fährt sie den Betrachter:innen freihändig entgegen und kann so trotz hohem Tempo noch eine Zigarette rauchen; ein gewagtes Detail, galt Tabakgenuss um 1900 für Frauen doch als unschicklich. Raucherinnen standen im Verdacht, der Halbwelt anzugehören oder als „Blaustrümpfe“ verunglimpfte Feministinnen zu sein – hier ist wohl letzteres der Fall. Auch ihre praktische Kleidung, speziell die Bloomers genannten Pumphosen, weisen die Dargestellte als emanzipierte Frau aus. Deutlich unterstreicht das Werbemotiv so die Bedeutung von Mobilität und Unabhängigkeit im Kampf um weibliche Gleichberechtigung.

L‘Aiglon Cycles Automobiles
Lithografie, circa 1900
Imp. Griffon Elleaume, Paris
Mihail Simonidi (1870-1933)
Dass sich Mihail Simonidis mädchenhafte Werbefigur für L’Aiglon selbst in den Sattel schwingt, ist kaum denkbar: Lieblich lächelnd blickt sie aus dem Bild. Ihr locker fallendes Gewand erinnert entfernt an die Antike, Blüten schmücken das lange, offene Haar. Das beworbene Fahrrad wird von der Dargestellten fast gänzlich verdeckt. Im Kontrast zu der entrückten Erscheinung steht die präzise Wiedergabe der Seine-Landschaft bei Argenteuil mitsamt dem Werk des Herstellers – prominent ragt rechts der Fabrikschlot in den Himmel.
Im Hintergrund ist die Silhouette des nahegelegenen Paris sichtbar. Mihail Simonidi war gebürtiger Rumäne mit griechischen Wurzeln. In Paris war er als Plakatkünstler erfolgreich, kehrte jedoch auch immer wieder für Dekorationsaufträge in sein Heimatland zurück.

Cycles Ouragan
Lithografie, circa 1900
Imp. Kossuth & Cie., Paris
Anonym
Rasant radelt die Werbefigur für Cycles Ouragan den Betrachter:innen entgegen. Ihr offenes Haar und das Kleid flattern im Fahrtwind; die Speichen der Räder verschwimmen. Ein stilisierter gelber Blitz durchzieht den nicht näher definierten Hintergrund und unterstreicht noch den Eindruck von Dynamik. Die ausgefallene Aufmachung der Dargestellten lässt eher an eine Bühnenkünstlerin als an eine Radfahrerin im Alltag denken: Ihr Kleid ist tief dekolletiert, locker drapierte Stoffbahnen in zartem Blau umspielen die Figur. Lange schwarze Handschuhe und ebenso schwarze Strümpfe setzen pikante Akzente.

Peerless Cycles
Lithografie, circa 1892
Affiches Louis Galice & Cie., Paris
Louis Galice (1864-1935)
Louis Galice war bekannt für seine Schausteller:innen- und Zirkusplakate. Auch das Peerless-Fahrrad bewarb er mit einer Akrobatin und setzte dabei ganz auf sinnliche Verruchtheit: Das körperbetonte Kostüm, bestehend aus einem Korsett mit Rüschenbesatz, schwarzen Strümpfen und einem hellen Strumpfband, wirkt für die Zeit äußerst gewagt, ja aufreizend. Die unkonventionelle Erscheinung wird noch durch die Zigarette in der Hand der Dargestellten unterstrichen – galt Rauchen für Frauen um 1900 doch noch als unschicklich. Kunststücke auf Rädern zogen damals auf Jahrmärkten, in Varietés oder Zirkussen ein begeistertes Publikum an.

Américan Crescent Cycles
Lithografie, circa 1900
Imp. Schneider & Bouillet, Paris
Misti (Ferdinand Mifliez, 1865-1923)
Selbstbewusst lächelnd kokettiert Mistis Werbedame für American Crescent Cycles mit den Betrachter:innen. Sie erscheint als Inbegriff modischer Stilsicherheit, trägt Rüschenbluse, eine eng taillierte orangerote Jacke mit voluminösen Hammelkeulenärmeln und farblich passendem Rock sowie einen Strohhut mit schwarzem Federschmuck und gepunktetem Schleier. Locker stützt sich die Dargestellte auf das beworbene Rad, das, vom Bildrand überschnitten, zum bloßen Accessoire reduziert erscheint. Ein großer, stilisierter Halbmond hinter der Figur sowie die US-amerikanische Flagge rechts oben verweisen auf den Markennamen.

Lithografie, 1895
Lith. F. Appel, Paris
Misti (Ferdinand Mifliez, 1865-1923)

Lithografie, circa 1910
Imp. H. Hérold, Paris
Marcellin Auzolle (1862-1942)
Lachend entkommt ein Paar auf Fahrrädern einem uniformierten, säbelbewehrten Militär, der sie aufgebracht mit weit ausgreifenden Schritten einzuholen sucht. Ohne dass sich die Vorgeschichte der Verfolgung aus der Bilderzählung erschließt, verspricht das Plakat so Unbeschwertheit und Lebensfreude durch Mobilität – jenseits von Regeln und Konventionen. Mistis freche Darstellung zählt zu den bekanntesten Fahrradplakaten der Zeit. Der Entwurf fand auch Aufnahme in Les Maîtres de l‘Affiche, eines der einflussreichsten Periodika zur frühen Plakatkunst.
2.
„Ich gewinne das Rennen! Dank meines Stella-Reifens, der mich unbesiegbar macht.“ Die Darstellung zeigt einen Menschen mit amputierten Beinen, der mühelos an einem galoppierenden Pferd und einem Rennradfahrer vorbeizieht. Die Reifen seien, so die Werbebotschaft, für den
Mann gleichzusetzen mit den Flügelsandalen des antiken Götterboten Hermes, deren Darstellung er auf der Brust trägt.

Cycles Cottereau
Lithografie, circa 1912
Imp. Ch. Wall & Cie., Paris
T. Laforet
Ein kleines Mädchen in Mantel und Mütze schiebt sein Fahrrad und betrachtet schlichte Kinderzeichnungen auf einer Wand: Passant:innen, Radfahrer:innen und Hunde erscheinen als locker hingeworfene Strichmännchen. Das Plakat für Cycles Cottereau vermittelt so kindliche Unbefangenheit und Liebenswürdigkeit. Als eher seltenes Motiv in der Fahrradwerbung um 1900 versprach das Bild des Mädchens besondere Aufmerksamkeit. Zugleich mag es die einfache Handhabbarkeit der beworbenen Räder unterstreichen – ein wichtiges Verkaufsargument der damaligen Zeit. Kinderfahrräder blieben bis in die 1920er Jahre jedoch eine äußerst seltene Erscheinung.
Digitale Bearbeitung & Katalogisierung: Martin Brennigk
Restaurierung: Anna Stefania Schulz