Freiheit auf zwei Rädern

Das Fahrrad auf französischen Plakaten um 1900

40 französische Fahrradplakate aus der Sammlung des Historischen Archivs des Deutschen Technikmuseums: Die großformatigen Lithografien entstanden zwischen 1890 und 1910. Zu dieser Zeit war das Fahrrad in seiner bis heute geläufigen Form als Sicherheitsniederrad ein alltagstaugliches, modernes Verkehrsmittel geworden und ging mit dem Plakat als neuem Werbemedium eine kreative Symbiose ein.

Das Plakat zeigt eine Frau auf einem Fahrrad der Marke „Cycles Terrot“, die aus einem Tunnel herausfährt und sich nach einer herannahenden Dampflokomotive umblickt.
Cycles Terrot
Lithografie, 1889
Affiches Artistique P. Vercasson, Paris
Francisco Tamagno (1851-1933)

Im Frankreich der Belle Époque versprach das Fahrrad ein Lebensgefühl von Freiheit, Unabhängigkeit und Modernität und als solches wurde es mit dem damals modernsten Reklamemittel großflächig beworben: dem Plakat. Diese großformatigen Werbelithografien galten schnell nach ihrem Aufkommen als außergewöhnliche Kunstwerke. Heute bieten sie uns einzigartige Einblicke in das damalige Verständnis von Technik und Kultur. Besonders Frauen standen um 1900 im Mittelpunkt der Werbung – und das auf ganz unterschiedliche Weise. Die Plakate spiegeln die gesellschaftlichen Ideale und Weltbilder um 1900 wider und zeigen ein zeittypisches Spektrum von Geschlechterrollen, Technik und Kultur.


Ein stilvolles Plakat, das für „Peugeot“ Fahrräder wirbt. Es zeigt eine elegante Frau mit rotem Hut, die auf einem Fahrrad fährt, begleitet von einem großen Hund und zwei spielenden Welpen. Im Hintergrund ist ein Park mit einem klassizistischen Pavillon zu sehen, was ein Gefühl von Freiheit und Eleganz vermittelt.

Peugeot
Lithografie, 1906
Imp. G. Elleaume, Paris
Walter Thor (1870-1929)

Eine Spazierfahrt im Grünen: Flächig-reduziert setzt Walter Thor eine Parklandschaft mit einer Tempelarchitektur ins Bild. Der gewundene Weg suggeriert räumliche Tiefe. Nach der damaligen Mode bekleidet mit langem schwarzem Rock, einer weißen Bluse mit sogenannten Hammelkeulenärmeln und einem kecken roten Hut, erscheint die Radfahrerin in vollendeter Eleganz. Die wirbelnd-verschwimmenden Speichen deuten die Rasanz der Fahrt an. Begleitet wird die Werbedame von freilaufenden weißen Hunden, die den Eindruck von Dynamik und Ungebundenheit noch verstärken.
Der Deutsche Walther Thor gehörte zum Künstler:innenkreis um die Münchner Zeitschrift Jugend, die dem Jugendstil seinen Namen verlieh.

Cycles Humber
Lithografie, circa 1900
Imp. Caby & Chardin, Paris
Henriette Bressler

Vor einem tiefblauen Sternenhimmel stützt Henriette Bresslers Werbefigur verträumt das Kinn in die Hände. Die Ellbogen ruhen auf dem Fahrradlenker, der von ihren überlangen, ornamental stilisierten Locken effektvoll hinterfangen wird. Die Frisur und das schlichte weiße Kleid erscheinen zeitlos. Passiv und introvertiert, entspricht die Dargestellte ganz überkommenen Idealvorstellungen von Weiblichkeit. Dynamik, Fahrvergnügen wie auch das fortschrittlich-emanzipatorische Moment, das zahlreiche andere Fahrradplakate der Zeit kennzeichnet, werden gänzlich ausgeblendet. Hernriette Bressler gehörte zu den wenigen Plakatkünstlerinnen. Über ihre Biografie ist nichts bekannt. Das Plakat für Cycles Humber wurde bei Caby & Chardin produziert, einer der führenden Druckereien in Paris.

Ein Plakat für "Cycles Humber" zeigt eine verträumte Frau mit goldenen Haaren, die auf einem Fahrrad ruht, umgeben von Sternen und einem tiefblauen Nachthimmel.
Das Plakat zeigt eine elegant gekleidete Frau, die auf einem Fahrrad der Marke „Hurtu“ fährt, mit einem leuchtend gelben Hintergrund und dem prominenten roten Schriftzug „Hurtu“. Unten stehen Adressangaben in Paris.

Hurtu Diligeon & Cie.
Lithografie, 1895
Imp. Lemercier, Paris
Anonym

Idealtypisch zeigt sich hier plakative Reduktion: Die schwarz-roten Buchstaben des Markennamens heben sich ebenso markant vom flächigen gelben Hintergrund ab wie die schwarz gekleidete Werbefigur. Ihre modische Silhouette erscheint bis zur Karikatur überzeichnet; die unnatürlich schmale Wespentaille kontrastiert mit dem ausladenden Rock und den voluminösen Ärmeln. Auf einem nur angedeuteten Weg kommt die Dargestellte den Betrachter:innen in schneller Fahrt entgegen, die bis zur Unkenntlichkeit verschwimmenden Speichen des Vorderrads unterstreichen den Eindruck von Geschwindigkeit. Dieses Plakat war mehrere Jahre sehr verbreitet; 1896 wurde es in Reims auf der größten Plakatausstellung der Zeit gezeigt – zusammen mit 1690 anderen Werken. Wer das Motiv entwarf, ist jedoch nicht überliefert.

Das Poster für "Cycles & Accessoires Griffiths" zeigt eine kunstvolle Jugendstil-Illustration mit einer eleganten Frau in fließendem Kleid, die einer älteren Frau mit Rosen auf einem Fahrrad begegnet.

Cycles & Accessoires Griffiths
Lithografie, 1898
Imp. J. Barreau, Paris
Henri Thiriet (1873-1946)

Das Plakat zeigt eine junge Frau in müheloser, flotter Fahrt – auch wenn vom Fahrrad kaum mehr als der von weißen Rosen umrankte Lenker zu sehen ist. Im Vordergrund sitzt eine deutlich vom Alter gezeichnete Frau inmitten eines Dornengestrüpps am Boden. An ihrer Schulter lehnt ein Krückstock, der ihre eingeschränkte Beweglichkeit verdeutlicht. Das Kinn in die Hand gestützt, betrachtet sie wehmütig die schwungvolle Vitalität der Radfahrerin. Der plakative Kontrast unterstreicht das Werbeversprechen jugendlicher Dynamik und Mobilität. Henri Thiriet gestaltete zahlreiche Fahrradplakate. Ganz im Zeichen des Art Nouveau setzte er dabei auf eine elegant geschwungene Linienführung – sei es in den stilisierten langen Locken der Radfahrerin, den üppig drapierten Gewandfalten oder floralen Elementen.

Ein Jugendstil-Plakat für Clément zeigt eine stilisierte Frau in fließendem Gewand mit Lorbeerkranz und Fahrrad, eingebettet in ein kunstvoll geschwungenes, naturinspiriertes Design mit warmen Farben.

Clément
Lithografie, circa 1900
Imp. Bourgerie & Cie., Paris
Arthur Foäche (1871-1967)

Für die Fahrradmarke Clément gestaltete Arthur Foäche eine Frauenfigur in Anlehnung an die Antike: Ein weich fließendes, lockeres Gewand umhüllt den Körper, bedeckt jedoch kaum die Brust. Als traditionelles Siegessymbol krönt ein Lorbeerkranz den Kopf der Dargestellten; im Arm hält sie einen ausladenden Zweig. Das beworbene Rad rückt dagegen motivisch aus dem Fokus. Es wird als ausgesparter Umriss im Papierton wiedergegeben und auf beiden Seiten vom Bildrand überschnitten. Umso farbintensiver ist die Landschaft im Hintergrund gestaltet. Die Wiese, Bäume und der von gelben Wolken durchzogene rote Himmel erscheinen in der ornamentalen Stilisierung des Art Nouveau. Dicht gebündelte, schwingende Linien überlagern die flächig-reduzierten Motive, die so regelrecht zu vibrieren scheinen.

Clément
Lithografie, 1896
Imp. J. Kossuth & Cie., Paris
Lucien Baylac (1851-1913)

Erwartungsvoll hebt eine modisch in Pumphosen und taillierte Jacke gekleidete Radlerin ihr Fahrrad in die Höhe. Ein weiblicher, geflügelter Genius in antikischer Draperie schwebt ihr entgegen und krönt das Rad mit einem goldenen Lorbeerkranz als Zeichen von Sieg und Ehre.
Lucien Baylacs Figuren verbinden den Rückgriff auf die Kunsttradition mit der modernen Lebenswelt: Während der Genius der Realität gänzlich entrückt ist, erscheint die Hosen tragende Radfahrerin als fortschrittlich-emanzipierte Frau. Indem sie offenbar mühelos ihr Rad anhebt, wird ganz nebenbei dessen leichte Handhabbarkeit herausgestellt.

Ein farbenfrohes Plakat der Marke Clément aus Paris zeigt ein Fahrrad, das von einem jungen Mädchen gehalten wird, während ein schwebender Engel einen goldenen Lorbeerkranz überreicht.

Phébus
Lithografie, circa 1897
Affiches Camis, Paris
Francisco Tamagno (1851-1933)

In Anspielung auf den Markennamen Phébus zeigt Francisco Tamgano den griechischen Gott Phöbus Apollon: Den Sonnenwagen, den er der Sage nach über das Firmament lenkt, hat Apoll hinter sich gelassen, um auf das beworbene Fahrrad umzusteigen. Mit der Rechten reckt er einen Lorbeerkranz als Siegeszeichen in die Höhe. Effektvoll hinterfängt die strahlende Sonne die Göttergestalt inmitten sich auftürmender Wolken. Im Rückgriff auf die antike Mythologie erscheint die profane Werbebotschaft überhöht.
Tamagno war gebürtiger Italiener, über seine Biografie ist wenig bekannt. Nach Paris übersiedelte er, um an der École des Beaux-Arts zu studieren, und machte sich dort im Folgenden als Plakatgestalter einen Namen.

Ein Plakat für "Phébus" zeigt eine mythologische Figur mit Lorbeerkranz und Fahrrad, umgeben von Pferden und Sonnenstrahlen, die Dynamik und Innovation symbolisieren.
Das Plakat bewirbt das „Bicyclette Hallot“ und zeigt Napoleon mit Hut, der ein Fahrrad auf einer Pyramidenspitze hält. Unten ist ein detailliertes Fahrrad abgebildet, begleitet von der Aufschrift: „Elle a toujours monté toutes les côtes.“

Bicyclette Hallot
Lithografie, circa 1900
Publicité Wall, Paris
Raoul Vion

Das Hallot-Rad habe immer alle Hänge bezwungen, verspricht der Werbetext neben dem detailliert ganz in Weiß wiedergegebenen Fahrrad. Dahinter heben sich zwei zu bläulichen Schattenrissen reduzierte Pyramiden effektvoll vom leuchtend gelben Grund ab. Auf der Spitze der vorderen ist die Silhouette des französischen Kaisers Napoleon I. (1769–1821) erkennbar, der ein weiteres Fahrrad hält. Der motivische Anachronismus – zu Lebzeiten Napoleons gab es noch keine Fahrräder in der hier gezeigten Form – ist als humoristische Anspielung auf den desaströsen Ägypten-Feldzug des berühmten Militärs zu verstehen: Mit einem Hallot-Rad wäre Napoleon erfolgreich und selbst die Pyramiden kein Hindernis gewesen, so die Botschaft.

Das Plakat zeigt Werbung für "Cycles Peugeot". Es illustriert einen Soldaten mit einem Fahrrad, der einem berittenen Offizier in einer herbstlichen Landschaft Dokumente überreicht.

Cycles Peugeot
Lithografie, circa 1904
Imp. Lemercier, Paris
Ernest Vulliemin (1862-1902)

Kaum ein Fahrradplakat war so verbreitet wie Ernest Vulliemins Entwurf für Cycles Peugeot: Ein Kürrasier hoch zu Ross erhält eine Nachricht von einem ebenfalls uniformierten Fahrradboten. Die militärische Szene verweist auf die Zuverlässigkeit und Qualität von Peugeot-Fahrrädern. Tatsächlich wurden vor allem in Frankreich Militärradfahrer als Boten und Späher eingesetzt.

Cycles Carmen
Lithografie, circa 1900
Imp. Paul Dupont, Paris
Maurice Marodon

In Anspielung auf den Markennamen greift Maurice Marodons Plakat die Hauptfiguren aus Prosper Mérimées 1845 erschienenem Roman Carmen auf: Der zum Radfahrer gewandelte Stierkämpfer Escamillo grüßt Carmen, die vom Balkon herabblickt. Mérimées Roman löste in Frankreich eine Welle der Begeisterung für alles Spanische aus. Der Autor prägte das Bild der spanischen Roma als leidenschaftliche „Gitanos“, die Freiheit und Ungebundenheit verkörpern. Carmen inspirierte nicht nur die Fahrradwerbung, sondern auch Georges Bizets gleichnamige Oper.
Am unteren Rand des Plakats verweist der Zusatz „Affiche d‘Intérieur“ darauf, dass es für Innenräume bestimmt war. Die eigene Wohnung mit Plakaten zu dekorieren, war en vogue.

Ein farbenfrohes Plakat für "Cycles Carmen" zeigt einen Mann in traditioneller Matador-Kleidung auf einem Fahrrad, während eine Frau auf einem Balkon zuschaut. Die Szene betont Eleganz und Romantik.
Das Plakat bewirbt „Automobiles et Cycles Clément“ und zeigt zwei stilvoll gekleidete Frauen, die ihre Fahrräder durch eine nächtliche Landschaft schieben, während im Hintergrund ein Auto und ein leuchtendes Logo zu sehen sind.

Automobiles et Cycles Clément
Lithografie, 1903
Imp. Minot, Paris
Albert Guillaume (1873-1942)

Mit einer effektvoll beleuchteten Nachtszene bewirbt Albert Guillaume Fahrräder und Automobile des Pariser Herstellers Clément: In Rückenansicht sind zwei Frauen in schlichten grauen Röcken und weißen Blusen zu sehen; neben ihren Fahrrädern halten sie Papierlaternen. Weiter hinten hat ein männlicher Fahrer sein Auto gestoppt. Sie alle betrachten ein Feuerwerk im Mittelgrund. Rechts ist die Seine sowie in der Ferne das nächtlich erleuchtete Paris mit dem Eiffelturm zu sehen. Das Plakat wirbt so nicht mit dem Versprechen von Mobilität und Fahrvergnügen, sondern setzt die beworbene Marke in assoziativen Bezug zu den Attraktionen des modernen Großstadtlebens. Albert Guillaume war nicht nur als Plakatkünstler tätig, sondern auch einer der bekanntesten Karikaturisten seiner Zeit.

Das Plakat zeigt eine dynamische Darstellung für "Rambler Cycles". Eine Frau in wehenden Gewändern fährt ein Fahrrad vor einem dunklen Hintergrund.

Rambler Cycles G. & J.
Lithografie, circa 1900
Imp. Kossuth & Cie., Paris
Anonym

Die beschwingte Radfahrerin scheint in farbiges, von unten kommendes Licht getaucht, das sie effektvoll vom schwarzem Grund abhebt. Dramatisch anmutende Schatten akzentuieren die Figur zusätzlich. Die ungewöhnliche Beleuchtung wie auch die sich üppig bauschende Draperie, welche die Figur umhüllt, lassen an die Auftritte der amerikanischen Tänzerin Loïe Fuller denken. Ab den 1890er Jahren feierte Fuller mit ihrem „Serpentinentanz“ Erfolge: Sie verhüllte ihren Körper mit meterlangen Stoffbahnen, die sie mittels eingearbeiteter Bambusstäbe in Bewegung versetzte. Die schwingenden Stoffmassen wurden mit wechselnder farbiger Beleuchtung effektvoll inszeniert. Das Fahrradplakat macht sich Fullers Popularität zunutze, warb die Tänzerin doch mit ganz ähnlichen Darstellungen für ihre Auftritte.

Cycles Griffon
Lithografie, circa 1900
Imp. G. Elleaume, Paris
Signiert: L. d‘H

Das Plakat, dessen Urheberschaft bisher ungeklärt ist, zeigt in Anspielung auf den Markennamen einen imposanten Greif vor einer hell strahlenden Sonne. In einem separaten Bildfeld ist eine Frau auf ihrem Rad zu sehen, die den Betrachter:innen in rasanter Fahrt entgegenkommt. Weiter hinten hat ein männlicher Radfahrer angehalten und blickt ihr nach. Nicht nur ihn, sogar ein Automobil hat die schnelle Radlerin hinter sich gelassen. Eine Werbetafel links am Wegesrand gibt noch einmal den Markennamen wieder.
Die Darstellung kombiniert so nicht nur eine zeitgenössische Szene mit der allegorisch-mythologischen Figur des Greifs, sondern thematisiert in einer für den heutigen Blick befremdlichen Doppelung noch einmal die Markenwerbung selbst.

Ein farbenfrohes Plakat für Cycles Griffon zeigt eine elegante Frau auf einem Fahrrad in ländlicher Umgebung, überragt von einem dramatischen Greifen unter strahlender Sonne. Text und Details bewerben die Marke.
Ein Plakat für "Cycles Clément" zeigt eine elegant gekleidete Frau mit einem Hut, die auf einem Fahrrad sitzt und zu einer orangefarbenen Laterne zeigt, die von Ästen hängt.

Cycles Clément
Lithografie, circa 1895
Bourgerie & Cie., Paris
Misti (Ferdinand Mifliez, 1865-1923)

Mistis Plakat für Cycles Clément lebt ganz von der eindrücklich inszenierten Beleuchtungssituation: Vor dem tiefblauen Nachthimmel ist rechts oben im Geäst eines Baums ein in warmem Orange strahlender Lampion mit dem Markennamen zu sehen. Eine weibliche Werbefigur in eleganter Garderobe weist mit ausgestrecktem Finger auf ihn. Sie erscheint als bläulich verschattete Silhouette, deren Kontur vom Lichtschein effektvoll akzentuiert wird. Vom Bildrand überschnitten, wird das Fahrrad dagegen zur Nebensache – nur Lenker, Sattel und Querstange sind auszumachen.

Ein kunstvolles Plakat für Pneu Michelin zeigt eine stilisierte Frau in fließenden Gewändern mit einem Lorbeerblatt, die auf einem gefiederten Fahrradreifen balanciert. Umgeben von floralen Ornamenten und weichen Farben.

Pneu Michelin
Lithografie, 1895
Imp. Moderne M. de Brunoff & Cie., Paris
Anonym

1891 entwickelte Michelin einen Luftreifen, der erstmals abnehmbar war und das Fahrrad alltagstauglich machte. Dieser Reifen sei der einzige, der auf das Rad der Fortuna passe, so die Plakatinschrift. Auf einem geflügelten Reifen strebt die römische Schicksalsgöttin souverän den Betrachter:innen entgegen, ein Palmblatt als Siegessymbol in der Rechten. Sie wird mit einer Frauenfigur im Hintergrund kontrastiert, die augenscheinlich den falschen Reifen gewählt hat und verunfallt ist. Das Plakat schöpft aus zwei verschiedenen Bildtraditionen: Um die Unbeständigkeit des Glücks anzudeuten, wurde Fortuna häufig auf einer Kugel balancierend gezeigt. Das ihr beigegebene Schicksalsrad diente dagegen nicht der Fortbewegung. Der Michelin-Reifen ersetzt hier beide Motive, er scheint das Glück zu sichern.

Das Plakat bewirbt „Phébus“-Räder mit einer dramatischen Darstellung: Ein geflügelter Engel mit fließendem Haar fällt vom Himmel, umgeben von Lichtstrahlen, seine Hand nach einem Fahrradreifen ausgestreckt.

Phébus
Lithografie, circa 1898
Papiers-Monnaie, Paris
Henri Gray (Henri Boulanger, 1858-1924)

In dynamischem Sturzflug strebt eine geflügelte Nackte einem einzelnen Rad der beworbenen Marke entgegen. Figur und Rad sind plastisch ausgearbeitet und souverän in perspektivischer Verkürzung vor tiefschwarzem Grund wiedergegeben. Geometrisch-stilisierte Lichtstrahlen mögen auf Phöbus Apollon verweisen, den griechischen Gott des Lichts, dem die beworbene Marke ihren Namen verdankt.
Wie hier setzte Henri Gray immer wieder auf die sinnlichen Reize weiblicher Aktfiguren, um Aufmerksamkeit für die Werbebotschaft zu generieren. Stets als fliegende Genien vor neutralem Grund dargestellt, waren die Figuren der Lebensrealität so weit entrückt, dass die freizügigen Darstellungen von den Zeitgenoss:innen toleriert wurden.

Cycles Clément Motocycles
Lithografie, circa 1898
Imp. Paul Dupont, Paris
PAL (Jean de Paléologue, 1860-1942)

Stolz wirbt der Hersteller Clément mit der „größten Fabrik der Welt“; rechts im Bild erstreckt sich der imposante weitläufige Werkkomplex. Während so der technische Fortschritt herausgestellt wird, schöpft die allegorische Frauenfigur rechts aus überkommenen Darstellungstraditionen: Ihr offenherziges Gewand, das die nackten Brüste sehen lässt, mutet antikisch an. Auf dem Kopf trägt sie einen Lorbeerkranz als Siegeszeichen. Hammer und Amboss versinnbildlichen die handwerkliche Qualität der Fahrradherstellung – ein offensichtlicher Anachronismus, wird doch mit der Fabrik zugleich auf die industrielle Produktion verwiesen.

Das Plakat wirbt für „Cycles Clément-Motocycles“ und zeigt eine allegorische weibliche Figur, die einen Hammer hält, mit einer großen Fabrik im Hintergrund und dem Schriftzug „La plus vaste usine du monde“.

Rudge
Lithografie, circa 1895
Imp. F. Appel, Paris
Misti (Ferdinand Mifliez, 1865-1923)

Mistis Plakat für Rudge-Fahhräder thematisiert weniger das beworbene Produkt als vielmehr die Werbung selbst: Auf einer Bühne preist ein Verkäufer das nagelneue, noch im Transportrahmen steckende Rad an. Hinter ihm sind zahlreiche Rudge-Plakate angeschlagen. Aus den dunkel verschatteten Silhouetten des Publikums stechen zwei wohlhabende Damen heraus, die augenscheinlich angetan sind. Stilsicher und modisch ausstaffiert, dienen sie als Blickfang sowie Identifikationsfiguren für potentielle Kundinnen – auch wenn die Lebensrealität der meisten Frauen kaum entsprechende Investitionen zuließ. Dass Werbung wiederum eine Werbesituation zeigt, war um 1900 kein seltenes Phänomen. Deutlich tritt darin die Suche nach geeigneten Bildstrategien für das noch junge Medium Plakat zutage.

Ein Plakat für die "Bicyclette DS" zeigt einen Gentleman in schwarzem Frack, der ein Fahrrad in einer Holzkiste präsentiert. Eine Menge elegant gekleideter Menschen beobachtet aufmerksam die Demonstration.
Das Plakat bewirbt den „La Selle Christy“-Fahrradsattel mit einer stilisierten Frau im grünen Outfit, die den Sattel hält. Links wird „anatomique et hygiénique“ hervorgehoben, rechts ein „ancien système“ abgelehnt.

Voila! La Selle Christy
Lithografie, 1897
Hickson Ward & Co., London
Jacques Faria (1898-1956)

Einen bequemen Sattel herzustellen, war erstaunlich lange ein Problem. Viele Varianten sollten Gesäßschmerzen entgegenwirken. Zudem schlugen selbst ernannte Sittenwächter:innen Alarm. Sie vermuteten, dass Frauen auf den herkömmlichen schmalen Satteln permanent stimuliert würden. Die flache Konstruktion des Christy-Sattels, als „anatomisch und hygienisch“ beworben, sollte das „alte unhygienische und schädliche System“ ablösen.

Das Poster wirbt für „Rambler Cycles“ und zeigt eine elegante Frau in einem stilvollen Kleid mit Blumen im Haar, die einen Lorbeerzweig hält. Ihr Arm ruht auf einem Fahrradlenker.

Rambler Cycles
Lithografie, 1901
Imp. Chaix, Paris
Joan Cardona Lladós (1877-1958)

Erst auf den zweiten Blick lässt das Plakatmotiv erkennen, welches Produkt hier beworben wird: Nur der Lenker des Fahrrads ist am unteren Bildrand sichtbar. Im Fokus steht vielmehr die weibliche Werbefigur, die einen Lorbeerzweig als Siegeszeichen präsentiert. Ganz im Zeichen des Art Nouveau, der französischen Ausprägung des Jugendstils, trägt sie üppigen Blumenschmuck im hochgesteckten Haar und ein locker drapiertes Gewand mit kunstvollen Ornamenten. Bei näherer Betrachtung geben sich die Rundformen auf ihrer Stola als kleine Speichenräder zu erkennen. Die Werbebotschaft scheint so in dekorativer Stilisierung verschlüsselt – eine damals gängige Strategie, um die Einprägsamkeit zu steigern: Einmal enträtselt, sollte der Inhalt umso stärker im Gedächtnis bleiben.
Der gebürtige Spanier Joan Cardona Lladós lebte von 1900 bis 1914 in Paris, wo er sich als Illustrator einen Namen machte.

Cycles Rudge
Lithografie, 1897
Caby & Chardin, Paris
Jacques Debut

Als geradezu überirdische Erscheinung inszeniert Jaqcues Debut die Präsentation des Rudge-Fahrrads: Auf einer Waldlichtung steht eine von hellem Licht umstrahlte weibliche Figur. Lange blonde Locken umspielen die Gestalt, ihr Gewand mutet in seinem locker drapierten Faltenwurf antikisch an und betont zugleich mit Goldapplikationen ihre weiblichen Reize. Mit verträumt gesenktem Blick hebt sie – offenbar mühelos – das beworbene Fahrrad. Im Vordergrund hat sich ein Mann im Gebüsch verborgen und bestaunt das Geschehen. Mit kariertem Sakko, Mütze und Handschuhen ist er bereits für einen Fahrradausflug gekleidet. Durch die zeitgenössische Figur erscheint die damals so beliebte Verklärung der an sich banalen Werbebotschaft ironisch gebrochen.

Ein Plakat für "Cycles Rudge" zeigt eine elegante Frau in einem fließenden Kleid, die ein Fahrrad hält. Im Hintergrund ein Wald mit mystischer Atmosphäre. Unten links beobachtet ein versteckter Mann die Szene. Unten rechts Werbung für Lucien Charmet, Paris.
Ein Plakat von Acatène Métropole zeigt eine Frau in einem Kimono mit einem Fächer neben einem Fahrrad, vor einer malerischen Landschaft mit Hügeln, Bäumen und einer Brücke.

Acatène Métropole
Lithografie, circa 1898
Affiches Kossuth, Paris
Charles Tichon (1865-1924)

Als Japan in den 1850er Jahren auf Druck westlicher Kolonialmächte seine jahrhundertelange Isolation aufgab, löste die Begegnung mit der fernöstlichen Kultur in Europa eine Welle der Begeisterung aus. Viele Plakatkünstler:innen orientierten sich gestalterisch an japanischen Farbholzschnitten. Charles Tichons Werbefigur mit Kimono und Fächer steht ganz im Zeichen des Japonismus. Derartige Werbemotive waren eher selten: Bei allem Reiz des Exotischen boten die Figuren für europäische Käufer:innen kaum Identifikationspotential. Als „Acatène“ bezeichnete man in Frankreich die kettenlose Kraftübertragung, die in den 1890erJahren populär wurde. Métropole war der erste Großserienhersteller solcher Fahrräder.

Pneumatiques A. Soly
Lithografie, circa 1900
Imp. Camis, Paris
Pierre Bonnaud (1865-1930)

Für Luftreifen der Marke A. Soly wirbt Pierre Bonnaud mit einer kecken Radlerin in flotter Fahrt. Die Geschwindigkeit lässt die Speichen der Räder verschwimmen und ihren langen Rock hochrutschen, sodass die dunklen Strümpfe und die nackten Knie sichtbar werden – ein überaus pikantes Detail, verhüllte die damalige Mode doch das weibliche Bein üblicherweise gänzlich, sodass schon ein entblößter Knöchel als höchst erotischer Anblick galt.
Das helle, modische Kleid mit schmaler Taille und voluminösen Hammelkeulenärmeln sticht vor dem buntfleckigen Hintergrund deutlich heraus. Die Krawatte, hier in auffälligem Rot, war damals ein typisches Accessoire für Radfahrerinnen.

Ein dynamisches Plakat für "Pneumatiques A. Soly" zeigt eine stilvolle Frau in einem weißen Kleid auf einem Fahrrad. Der Hintergrund hebt eine leuchtend gelbe Sonne und rote Akzente hervor.
Ein elegantes Plakat für "L'Aiglon Cycles et Automobiles" zeigt eine Frau in einem weißen Kleid neben einem Fahrrad. Im Hintergrund ist eine malerische Landschaft mit Brücke und Fluss zu sehen.

L‘Aiglon Cycles Automobiles
Lithografie, circa 1900
Imp. Griffon Elleaume, Paris
Mihail Simonidi (1870-1933)

Dass sich Mihail Simonidis mädchenhafte Werbefigur für L’Aiglon selbst in den Sattel schwingt, ist kaum denkbar: Lieblich lächelnd blickt sie aus dem Bild. Ihr locker fallendes Gewand erinnert entfernt an die Antike, Blüten schmücken das lange, offene Haar. Das beworbene Fahrrad wird von der Dargestellten fast gänzlich verdeckt. Im Kontrast zu der entrückten Erscheinung steht die präzise Wiedergabe der Seine-Landschaft bei Argenteuil mitsamt dem Werk des Herstellers – prominent ragt rechts der Fabrikschlot in den Himmel.
Im Hintergrund ist die Silhouette des nahegelegenen Paris sichtbar. Mihail Simonidi war gebürtiger Rumäne mit griechischen Wurzeln. In Paris war er als Plakatkünstler erfolgreich, kehrte jedoch auch immer wieder für Dekorationsaufträge in sein Heimatland zurück.

Das Plakat zeigt eine stilisierte Frau mit wehenden Haaren und Gewändern, die auf einem Fahrrad fährt. Der Hintergrund ist dynamisch mit Blitz-ähnlichen Formen gestaltet. Text: „Cycles Ouragan, St. Etienne“.

Cycles Ouragan
Lithografie, circa 1900
Imp. Kossuth & Cie., Paris
Anonym

Rasant radelt die Werbefigur für Cycles Ouragan den Betrachter:innen entgegen. Ihr offenes Haar und das Kleid flattern im Fahrtwind; die Speichen der Räder verschwimmen. Ein stilisierter gelber Blitz durchzieht den nicht näher definierten Hintergrund und unterstreicht noch den Eindruck von Dynamik. Die ausgefallene Aufmachung der Dargestellten lässt eher an eine Bühnenkünstlerin als an eine Radfahrerin im Alltag denken: Ihr Kleid ist tief dekolletiert, locker drapierte Stoffbahnen in zartem Blau umspielen die Figur. Lange schwarze Handschuhe und ebenso schwarze Strümpfe setzen pikante Akzente.

Ein farbenfrohes Plakat für "Peerless Cycles" zeigt eine elegant gekleidete Frau in einem schwarzen Outfit mit weißem Hut, die auf einem Fahrrad sitzt. Der gelbe Hintergrund hebt die Szene hervor.

Peerless Cycles
Lithografie, circa 1892
Affiches Louis Galice & Cie., Paris
Louis Galice (1864-1935)

Louis Galice war bekannt für seine Schausteller:innen- und Zirkusplakate. Auch das Peerless-Fahrrad bewarb er mit einer Akrobatin und setzte dabei ganz auf sinnliche Verruchtheit: Das körperbetonte Kostüm, bestehend aus einem Korsett mit Rüschenbesatz, schwarzen Strümpfen und einem hellen Strumpfband, wirkt für die Zeit äußerst gewagt, ja aufreizend. Die unkonventionelle Erscheinung wird noch durch die Zigarette in der Hand der Dargestellten unterstrichen – galt Rauchen für Frauen um 1900 doch noch als unschicklich. Kunststücke auf Rädern zogen damals auf Jahrmärkten, in Varietés oder Zirkussen ein begeistertes Publikum an.

Ein Plakat für "American Crescent Cycles" zeigt eine stilvolle Frau in einem eleganten orangefarbenen Kleid mit einem Fahrrad vor einem Halbmond und der amerikanischen Flagge.

Américan Crescent Cycles
Lithografie, circa 1900
Imp. Schneider & Bouillet, Paris
Misti (Ferdinand Mifliez, 1865-1923)

Selbstbewusst lächelnd kokettiert Mistis Werbedame für American Crescent Cycles mit den Betrachter:innen. Sie erscheint als Inbegriff modischer Stilsicherheit, trägt Rüschenbluse, eine eng taillierte orangerote Jacke mit voluminösen Hammelkeulenärmeln und farblich passendem Rock sowie einen Strohhut mit schwarzem Federschmuck und gepunktetem Schleier. Locker stützt sich die Dargestellte auf das beworbene Rad, das, vom Bildrand überschnitten, zum bloßen Accessoire reduziert erscheint. Ein großer, stilisierter Halbmond hinter der Figur sowie die US-amerikanische Flagge rechts oben verweisen auf den Markennamen.

Ein Plakat für "Cycles Cottereau" zeigt ein junges Mädchen, das ein Fahrrad hält, vor einer Wand mit kindlichen Zeichnungen von Fahrrädern und Tieren. Oben steht groß "Cycles Cottereau" mit dem Hinweis auf Dijon.

Cycles Cottereau
Lithografie, circa 1912
Imp. Ch. Wall & Cie., Paris
T. Laforet

Ein kleines Mädchen in Mantel und Mütze schiebt sein Fahrrad und betrachtet schlichte Kinderzeichnungen auf einer Wand: Passant:innen, Radfahrer:innen und Hunde erscheinen als locker hingeworfene Strichmännchen. Das Plakat für Cycles Cottereau vermittelt so kindliche Unbefangenheit und Liebenswürdigkeit. Als eher seltenes Motiv in der Fahrradwerbung um 1900 versprach das Bild des Mädchens besondere Aufmerksamkeit. Zugleich mag es die einfache Handhabbarkeit der beworbenen Räder unterstreichen – ein wichtiges Verkaufsargument der damaligen Zeit. Kinderfahrräder blieben bis in die 1920er Jahre jedoch eine äußerst seltene Erscheinung.


Digitale Bearbeitung & Katalogisierung: Martin Brennigk
Restaurierung: Anna Stefania Schulz

Tobias Baldus

Tobias Baldus ist Co-Kurator der Ausstellung „Freiheit auf zwei Rädern – Das Fahrrad auf französischen Plakaten um 1900“. Er ist bei einem Berliner Auktionshaus tätig und schreibt nebenbei für verschiedene Publikationen, insbesondere zu reklame- und verkehrsgeschichtlichen Themen.

Bernd Lüke

Bernd Lüke leitet den Sammlungsbereich Kommunikation und Medien im Deutschen Technikmuseum.

Barbara Martin

Barbara Martin studierte Kunstgeschichte und Angewandte Kulturwissenschaft in Karlsruhe sowie Kuratorisches Wissen und Kunstpublizistik in Bochum. Sie promovierte 2014 zum Frauenbild im französischen Plakat des Fin de siècle. Nach einem Volontariat am Landesmuseum Hannover war Barbara Martin dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Weitere berufliche Stationen als Kuratorin umfassten die Galerie Stihl Waiblingen, die Städtischen Museen Heilbronn sowie das Kunstmuseum Bonn.